Selektiver Mutismus

Leri Olivin

by Leri Olivin

Story

Mit Bauchschmerzen setzte sich Malie an ihren Platz. Das war immer ein paar Wochen vor den Zeugnissen so. „Du musst dich mündlich mehr beteiligen. In den Tests und Arbeiten hast du immer super Noten, du arbeitest mit und machst immer deine Hausaufgaben, aber das reicht nicht. Wenn ich dich im Unterricht drannehme, antwortest du oft nicht, dabei kannst du die Themen doch. Du brauchst keine Angst zu haben, du musst dich nur trauen.“ Die Worte aus der letzten Mathestunde gingen ihr durch den Kopf. Es war immer dasselbe. In jedem Fach bekam sie das zu hören, jedes Jahr zwei Mal. Schon vom Gedanken wurde ihr schlecht. Nach der Begrüßung erinnerte Herr Tillmann alle daran, wie ausschlaggebend die nächsten Unterrichtsstunden für die endgültigen Noten waren. Dabei wanderte sein Blick durch die Klasse und blieb einen Moment bei ihr stehen. Ein Schmerz zog durch ihren Körper, er würde sie heute definitiv drannehmen. Die ersten paar Minuten erklärte Herr Tillmann das Thema nochmal und nahm vor allem Schüler dran, denen es bei der letzten Klassenarbeit am meisten schwerfiel. Malie versuchte mehrmals sich zu melden, aber ihr Arm war so schwer, dass sie es nicht schaffte, ihn auch nur ein kleines bisschen zu bewegen. Dabei waren die Fragen doch so einfach. „Wie nennt man diese Strecke des Dreiecks, Malie?“ Ein neuer Schmerz durchzog ihren Bauch. „Das ist eine Hypotenuse“, antwortete sie. Doch es kam nichts raus. Nicht mal ihre Lippen bewegten sich. Ihr Gesicht wurde heiß und ihre Hände fingen an zu schwitzen. Sie merkte die Blicke ihrer Mitschüler. „Das ist eine Hypotenuse. Das ist eine Hypotenuse“, am Ende schrie sie schon innerlich, versuchte die unsichtbare Mauer zu überwinden. Aber ihr zitternder Körper blieb stumm. Nach einer Weile hörte sie, wie Herr Tillmann enttäuscht ausatmete. „Dann Aya.“ Ihre Versteinerung lies nach, erst jetzt merkte Malie, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.
Immer wieder versuchte sie sich zu beteiligen, aber es funktionierte einfach nicht. Als die Stillarbeit endlich drankam, war das Schlimmste überstanden. Mit etwas Glück würde sie genug Zeit haben, um die Aufgaben noch mal nachzurechnen. Herr Tillmann ging währenddessen umher und sprach bei Bedarf die Aufgabenstellung mit jedem einzeln durch. Mit dem Lösungsheft in der Hand blieb er neben Malie stehen. Unauffällig linste sie zu den Antworten und verglich sie mit ihren eigenen. Alle fünf sichtbaren Ergebnisse hatte sie richtig. Als die Aufgaben verglichen wurden, versuchte sie sich wieder zu melden. Sie hatte nur noch eine Möglichkeit. Mit aller Kraft versuchte sie ihren Arm zu heben. Ganz langsam bewegte er sich nach oben. „Malie“, die Freude war Herrn Tillmann deutlich anzusehen. Es fühlte sich an, als würde eine Wand herunterfahren, sie konnte sich nicht mehr bewegen. Immer wieder versuchte sie, etwas zu sagen, aber ihr Körper führte nichts aus. Die Befehle gingen einfach ins Leere, dabei funktionierte so etwas normalerweise doch automatisch. Innerlich atmete Malie tief durch. Sie hatte es auch geschafft, sich zu melden, also konnte sie das auch schaffen. Es wäre ja auch nicht das erste Mal, dass sie etwas im Unterricht sagte. Malie stellte sich vor, wie der Befehl von ihrem Gehirn aus durch ihren Körper geleitet wurde, wie Mund und Zunge zusammen die Worte formten und wie ihre Stimme zu hören war. „α=42°, β=35° und γ=103°“, leise war ihre zitternde Stimme für die Hälfte der Klasse zu hören.

© Leri Olivin 2024-03-01

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