Sichel

Luca Suse Hahn

by Luca Suse Hahn

Story

Wie viele Geschichten beginnen unter dem Vollmond? Einem vollkommenen Kreis, dem einzigen Licht in der Dunkelheit. Als wäre er der Ursprung aller Magie. Wehrwölfe, Beschwörungen, Chaos, Zauberei. Ebbe und Flut. Es ist immer der Vollmond.

Maya wurde bei Neumond geboren. Unter einem gekippten Grinsen.

Jahre lang lernte sie nicht zu sprechen. Sie lächelte verträumt vor sich hin, schien niemals ganz da zu sein. War versunken in ihrem eigenen Kopf. Neugierig streifte sie durch den Garten, schaute sich manchmal stundenlang ein und dieselbe Blume an. Beobachtete das Gras beim Wachsen. Es war, als könne sie stets mehr sehen als der Rest der Menschen. Mit sechs Jahren sagte das Mädchen das erste Mal etwas. Vielleicht hatte sie nicht sprechen wollen, bevor sie die Sprache ganz beherrschte. Es war kein erstes Wort, sondern gleich eine ganze Frage: “Warum tragen Katzen keine Schuhe? Können die Schuster nicht bis vier zählen?” Von da an hörte sie gar nicht mehr auf zu reden. Sie brabelte den ganzen Tag vor sich hin, selbst im Schlaf hörte man durch die dünnen Wände ihr Murmeln. Als bräuchte ihr Körper die Worte wie die Luft zum Atmen.

Jetzt zog Maya sich die hellen Schuhe von den Füßen und lief durchs Kornfeld. Ihre Finger strichen über die trockenen Halme, die Fußsohlen sanken in die weiche Erde und hinterließen Spuren. “Schau, du kannst mich gar nicht verlieren”, erwiderte sie lächelnd und deutete auf die Fußabdrücke, “Ich baue dir einen Weg.” Plappernd zog sie neue Schneisen ins Feld. Buchstabe für Buchstabe. Vögel zogen in Schwärmen Kreise über die Kornwiesen. Schnatternd tauschten sie sich über die Geschichten aus, die Maya ihnen in die Felder lief. Wer sonst hätte ihnen das Lesen beibringen können?

“Mit wem sprichst du da?”, riss sie ein kleiner Junge aus dem Gespräch. Mit ihrem üblichen Lächeln musterte sie ihn. Sie zeigte hinter sich. “Na mit Mundy. Sie hat sich vor zwei Tagen am Fuß verletzt. Ich vergesse es leider manchmal und laufe zu schnell.”

Verwirrt starrte er in die Leere hinter Maya. Zögerlich nickte er. “Oh ja, eine schlimme Verletzung. Das muss weh getan haben. Was ist passiert?” “Wir sind auf eine Sternschuppe aufgesprungen und sie hat sich ein wenig zu weit nach hinten gebeugt.”

Verständnisvoll nickte der Junge. Er schien das Problem nur zu gut zu kennen. “Sollte sie ihren Fuß dann nicht besser schonen?” Bestimmt schüttelte Maya den Kopf. “Wenn ein Fuß zu lange nicht benutzt wird, fühlt er sich nicht mehr gebraucht. Sehr traurig.”

“Darf ich mitkommen? Dann könnten wir sie zusammen stützen.”

Beide hakten sich bei Mundy unter. Die Luft legte sich schwer auf ihre Schultern. Zum Glück waren sie stark. Zusammen liefen sie den Bogen des G. Das Vogelgeschnatter wurde lauter. Aufgebracht diskutierten sie darüber, warum sie auf einmal die Buchstaben fett schrieb. Da müssten sie ja besonders wichtig sein.

“Warst du schon am Fluss?”, fragte Maya, “Die Lachse spielen Weitsprung. Sie lassen uns bestimmt mitmachen.”

© Luca Suse Hahn 2022-05-19