Meine Nachbarin, die Ludmilla. Und sie hat geglaubt, er steht auf sie. Ihr Arbeitstag begann mit dem Weg zur Feinkost-Theke. Sorgfältig schnitt sie fünf Dekagramm Leberkäse auf, legte ihn in eine Semmel, wickelte die nahrhafte Jause in Papier. Dann holte sie eine Flasche Cola aus der Kühlvitrine, setzte sich an die Kassa und kassierte. Zuerst ihren eigenen Einkauf. Nach einem blitzschnellen Griff ins Zigaretten-Fach. € 2,40, wie immer. Niemand würde kontrollieren, ob dieser Preis korrekt war. Die abgezählten Münzen fischte sie aus ihrer Schürzentasche.
Nun begann das Warten. Wann würde er heute kommen? Krampfhaft bemühte sie sich, ein freundliches Lächeln aufzusetzen. Endlich! Er stand vor ihr, mit diesem schiefen Grinsen im Gesicht. Seine Art zu flirten. Wie selbstverständlich nahm er Papiertüte und Kassenbon, zwinkerte ihr zu. „Bis später!“ Ihr Herz begann zu klopfen. Natürlich hatte sie Verständnis für ihn und die prekäre Situation, in die er geraten war. Völlig unverschuldet. Verstoßen von der Familie, delogiert. Jetzt hauste er in einem Zelt unter der Autobahn-Brücke.
Seit er Ludmilla kannte, war das Problem Lebensmittel, Getränke und Zigaretten zu organisieren erledigt. Aber nach ein paar Stunden in trauter Zweisamkeit wurden seine Ansprüche etwas größer. Warum sich nicht ab und zu Räucherlachs, Kaviar und ein Glas Sekt dazu gönnen? Sie tauschte die Münzen in ihrer Schürzentasche gegen einen kleinen Schein. Ein neuer Anzug für Marcel war dringend vonnöten, wie sollte er sich so bei seinem neuen Arbeitgeber vorstellen? Und ein kleines Auto für den Job als Vertreter musste her. Dann würde es ihm auch nicht mehr peinlich sein, sich mit ihr, der hochanständigen Frau, sehen zu lassen.
Aber teuer war es geworden für sie, viel zu teuer. Als sie nicht mehr wusste, wie sie ihre Miete bezahlen sollte, kam ihr die rettende Idee: abgelaufene Lebensmittel. Die feinsten Sachen mussten jeden Tag „entsorgt“ werden. Sie war stolz darauf, diese Lebensmittel zu retten.
Schließlich inspizierte sie auch die Mülltonnen vor unserem Haus. Eines Morgens war der Teufel los. Die Männer der Müllentsorgung erlitten den Schock ihres Lebens. Es klemmte. Die Ursache dafür war jedoch kein Müll. Entsetzt sahen sie auf ein abgetrenntes, menschliches Bein, welches in der Presse hängen geblieben war. Was für eine Tragödie! Ludmilla war wohl in die große Tonne geklettert. Seltsam, dass niemand ihre Schreie gehört und sie befreit hatte. Man hatte sie unabsichtlich mit entsorgt, regelrecht zerquetscht.
Manchmal wird etwas einfach übersehen. Niemandem fiel auf, dass die Schaufel mit der scharfen Kante nicht mehr an der Hausmauer lehnte. Wie schnell ist das Genick eines Menschen gebrochen, mit einem gezielten Schlag von hinten? Kartons zur unauffälligen Abdeckung des Körpers liegen in der Papiertonne gleich daneben. Seinen Arbeitgeber bestehlen, auch noch stolz darauf sein? Nicht gerade ideal für gutes Karma.
R.I.P. „Ludmilla“!
© Lotte Maria Kaml 2022-11-19