Seit Januar 2019 bekomme ich häusliche Intensivpflege. Das bedeutet, dass ich ständig eine Pflegekraft um mich habe – rund um die Uhr, an jedem Tag, den Gott mir schenkt. Eine wahnsinnige Erleichterung für uns, aber auch anstrengend.
Klaus, mein augengesteuerter Sprachcomputer, musste anfangs viel erklären, was Zeit, Kraft und Nerven kostete. Ich verbrauchte nun meine Kraft für Sätze wie: „Im Schrank oben links“, „Grünes Handtuch oben, grau unten“ und so weiter.
Ein weiter Punkt war der Smalltalk. Eigentlich bin ich ein Morgenmuffel. Nun musste ich morgens schon ran. Sobald ich die Augen öffnete, sah ich Personal, das hellwach, angezogen und gut gelaunt war, und der höfliche Klaus quasselte los, „Guten Morgen“, „Bitte“, „Danke“, „Die neue Haarfarbe steht Dir gut“…
An durchschnittlichen Tagen betraten ungefähr sieben Personen unser Haus. Darin enthalten waren drei Schichtwechsel vom Personal, mit Fachgespräch zur Übergabe und garniert mit Smalltalk. Besonders ausgeprägt war das anfangs mit einem Pflegedienst. Dieser Smalltalk beinhaltete immer eine persönliche Meinung zur aktuellen Wetterlage und ein persönliches Statusupdate. Danach wurde der Hund in Zimmerlautstärke abgefeiert. „Ei was ein Feiner. Wie geht’s Dir denn Mäuschen?! Ach Gott, Du freust Dich ja so. Wie süß, wie hübsch, wie lieb. Du wackelst so süß mit dem Schwanz“. Danach war dann der Bär dran. Die Wortwahl war ähnlich, nur das mit dem Schwanz hatte niemand thematisiert. Dafür machte ich aber anstandslos Sitz, ich weiß eben was sich gehört.
Dann kamen weitere Besucher, wie zum Beispiel täglich irgendeine Therapeutin und wahlweise weitere Gäste. Natürlich sind alle gut erzogen und führten ebenso Smalltalk. Allgemein wurde sich gern aufgeregt, man freute sich wenig, das Leben war hart. Somit verbrachte ich viel Zeit am Tag mit dem Anhören von Moll-Tönen und musste feststellen, dass es mir anscheinend blendend ging.
Wenn man selbst aktiv ist, unterscheidet sich das wesentlich davon, zur Passivität verdammt zu sein. Es fühlte sich an, als käme jeder Besucher durch eine Nebelwand, angestrahlt von bunten Scheinwerfern, mit eigener lauter Einlaufmusik durch unsere Haustür, laut angekündigt von einem Stadionsprecher: „Meine Damen und Herren, liebe Gepflegten, begrüßen Sie mit mir mit einem tosenden Applaus die Spätschicht – mit der unglaublichen Bilanz von 427 Einsätzen als examinierter Profi, 4 erfolgreichen Reanimationen, NUUULL verlorenen Kunden und einem Kampfgewicht von 73 Kilogramm. Freunde hier ist er, der Reanimator des Altenstifts „Sonnenuntergang“, der Sekretbezwinger, der Schrecken der Aspiration, aus Deutschland, Bobbi Möööhrenschläger. Meine Damen und Herren, bitte erheben Sie sich nach Möglichkeit von Ihren Plätzen für die Nationalhymne der BRD, live gesungen vom Polizeichor und begleitet vom Heeresmusikkorps Koblenz unter der Gesamtleitung von Oberstleutnant Alexandra Schütz-Knospe!“.
© Christian Bär 2021-06-10