Sonnenmantel to go – Teil 5

Zu meinem Glück ist, ich meine war, die Direktorin des Musikgymnasiums eine ziemlich gute Freundin meiner Mutter. Nachdem es zur Diagnose gekommen war, hielten die beiden weiterhin an ihren monatlichen Treffen fest. Mit der Zeit mussten sie das alles jedoch in unser Haus verlagern, da sich die Krankheit immer bemerkbarer machte. Sabine bemühte sich bei jedem Treffen darum, kein Anzeichen von Mitleid zu zeigen. Es war eine einzige Träne, die ihre Fassade zum Einstürzen brachte, nachdem mich meine Mama bei ihr verabschiedet hatte. Und zwar für immer.

Sabine machte es sich zur Lebensaufgabe, ein Auge auf mich zu werfen. Ich bin mir sicher, dass das alles auf einem großen Versprechen beruht, möchte es aber nicht wissen. Als ich das Konferenzzimmer betrete, werde ich strahlend von ihr begrüßt. “Na, wie war denn dein Morgenlauf? Ich verstehe immer noch nicht, wie man so etwas freiwillig machen kann”, fragt sie mich mit einem ernsthaften Blick. Sie zählt zu den Einzigen, die in diesem Raum Interesse an meinem Leben zeigen. “Er war … speziell”. Ein anderes Wort fällt mir nicht ein, um diesen eigenartigen Spaziergang in meine Vergangenheit zu beschreiben. Grinsend kommt sie mit einem Stapel Flyer auf mich zu. “Kannst du dich an diese Veranstaltung erinnern?”, fragt sie mich mit ihrer fürsorglichen Stimme. Ungeduldig nehme ich einen bunt bedruckten Zettel entgegen und versuche keinen einzigen Muskel in meinem Gesicht zu verändern. “Wusste ich es doch”, schmunzelt Sabine und reicht mir den restlichen Stapel.

Ich stehe vor der großen Holztür, die kein Geheimnis daraus macht, was sich dahinter verbirgt. Das wilde Geschrei, das durch den Spalt direkt in mein Ohr dringt, erinnert mich daran, meinen Sonnenmantel anzuziehen. Ich schließe meine Augen, nehme einen Arm hoch und demonstriere das Anziehen eines großen Mantels. Wenn mich jetzt jemand aus dieser Klasse dabei beobachten würde, wäre ich wortwörtlich am Arsch. Sie suchen ja nur nach Gründen, um mich bloßzustellen und diese Bühne biete ich ihnen gerade. Schreckhaft blicke ich in alle Richtungen und suche die Bestätigung, die ich dringend benötige. Niemand hat mich gesehen. Einmal tief durchatmen und ab in die Höhle der Löwen. Es dauert über zehn Minuten, bis sich schließlich das letzte Mitglied dieser Klasse dafür entscheidet, am Unterrichtsgeschehen teilzunehmen. Nachdem mir Sabine erklärt hatte, worum es sich in meinen Stunden handeln sollte, war ich mir sowas von sicher, dass ich die coolste Aufgabe an der gesamten Schule habe. “Wer von euch ist heute an der Reihe?”. Mit gerunzelter Stirn sehe ich von Kind zu Kind, bis ich schließlich an einem gestreckten Arm anhalte. “Also Mike. Welchen Titel stellst du uns heute vor und weshalb ist er dein Hit der Woche?”. Mike dreht lässig seine Cap nach hinten, weshalb vereinzelte blonde Strähnen vor seiner Stirn abstehen. “Ich habe keinen”, antwortet er lustlos, während sein Stuhl die Bewegung eines Schaukelpferds nachmacht.

Nicht schon wieder.