by C_Lavie
Frei und verrĂĽckt wie ein Vogel, rĂĽcke ich den Fahrradhelm auf meinem Kopf zurecht. Zu Recht hatte ich ihn heute Morgen aufgesetzt. Beinahe hätte er mich allerdings versetzt. Denn er befand sich nicht an seinem angestammten Platz. Und ich platzte fast vor Nervosität, denn ich musste los. Ein schweres Los, diese Suche nach ihm, obwohl ich frei hatte. Doch es ging um einen wichtigen Termin: den Gang zum Notar. Und bevor ich hinging, erging ich mich in mehreren Vorbereitungen. Doch das tut hier nicht viel zur Sache, die Sache ist vielmehr diese: Ich liebe Fahrradfahren. Die Erfahrung des Pedalierens ist prächtig. Mit dem Wind im Haar, die Nase voran, die FĂĽĂźe erhaben ĂĽber der Erdoberfläche schwebend und gefĂĽhlt von jeglicher Schwerkraft befreit, tritt man kräftig in die Pedale, immer wieder mit dem einen FuĂź dem anderen zuspielend, sodass das ganze Getrete spielerisch leicht passiert. Passend dazu benötigt man leichtgängige Noten im Ohr. Ein Summen, das in Summe genommen zum Lied wird. Wenn Passanten betreten blicken, dann passiert das eben so. Summa summarum nimmt man das gern in Kauf. Von den Blicken kaufen kann man sich sowieso nichts. Nur um Erfahrungen reicher wird man. So wie diese: Vorfahrt hatte bisher nicht der, der reifer ist, sondern der, der den schnelleren Reifen fährt. Von einem Rennradfahrer oder Mountainbiker wurde man bekanntlich ĂĽberholt. Neuerdings jedoch sind es vornehmlich die E-Bikes, die an einem vorbeireiten, die vornehm geritten werden. Nicht selten von Vorfahren und Vorgängergenerationen, darunter rĂĽstige Bekannte mit grauem Haar und stattlicher AusrĂĽstung. Vorfahrt hat vielleicht doch der Erfahrenere? Es scheint, als wĂĽrde im StraĂźenverkehr der alte schöne Spruch Alter vor Schönheit neu aufleben. Ja, ausgesprochen viele der E-Biker tragen graue Haare unter ihrem Helm und auf ihrem Kopf. Es scheint, als wäre in diesem Verkehr die Welt auf den Kopf gestellt. Verkehrte Welt. Die Jungen treten betreten, die Alten beherzt – manche mit Doppelherz – in die Pedale. Die Alten sind nicht auf den Kopf gefallen, die Jungen haben den Kopf ohne Flausen. Die Alten haben Vorkehrungen getroffen, die Jungen verkehren betroffen. Verkehrt herum tragen sie MĂĽtzen, die sie nicht schĂĽtzen, sind manchmal lässig, fahrig. Fahrlässig. Während die Alten ihnen im Verkehr vom E-Rad aus einen Rat erteilen wollen, wollen die Jungen sich eher ungern auf der Fahrradpiste belehren lassen und werfen ihnen Wörter an den Kopf wie “Ey, Alter, verpiss dich.” Im nächsten Augenblick macht es dann Boom – und sie sich einen Vorwurf. Denn ein Boomer liegt einen Steinwurf entfernt auf der StraĂźe. Sie wollten sich nicht mit ihm ĂĽberwerfen, und helfen ihm auf. Ein bisschen verdattert, aber nicht tattrig, steigt er auf sein Fahrrad, es rattert, die flattrige Fahrt geht weiter. Hoffentlich hat ihn keiner gesehen. Er wird niemandem verraten, dass er zu Fall gebracht wurde, von seinem eigenen Fahrrad, das Verrat an ihm begangen hat. TĂĽchtig legt er sich ins Zeug, um wieder fahrtĂĽchtig zu erscheinen. Die Sonne scheint und er fĂĽhlt sich wie ein junger Gott. Gottseidank ist nichts passiert, denkt er, während er den nächsten JĂĽngling passiert, ĂĽberholt, an ihm vorbeizieht. Und dieser? Denkt. “Alter, wieder mal komm’ ich nicht zum Zuge. Ich fĂĽhle mich abgehängt vom Alter.” Er zieht an seiner Zigarette, die er in der einen Hand hält, und muss plötzlich schief lächeln. Denn die Unvernunft, ja, die verkehrt nur mit der Jugend. Wer sich abgehängt fĂĽhlt, ist ein Tor. Alter vor Torheit.
© C_Lavie 2025-01-13