Jeden Tag schaue ich dich an. Nicht nur ein Mal. Denn du scheinst fast überall zu sein. So gut wie in jedem Zimmer. Selbst wenn ich mein Zuhause verlasse, muss ich nicht lange nach dir suchen. Du scheinst ja wirklich wichtig zu sein. Aber warum eigentlich? Damit ich entscheiden kann, ob ich gut aussehe? Als ob mir die Menschen draußen auf der Straße nicht schon oft genug zu verstehen gäben, wie ich auf sie wirke. Ihre Blicke und Worte sind wie Spiegel. Wozu brauche ich dich also noch? Und weshalb ist es mir überhaupt wichtig, wie ich aussehe? Eigentlich geht es doch gar nicht mehr nur um mich. Es geht darum, anderen zu gefallen. Wenn du der Bewertung deines Äußeren durch andere Menschen die Macht gibst, darüber zu bestimmen, wie du dich fühlst, gelangst du in eine toxische Abhängigkeit. Du vergleichst dich mit anderen und fragst dich, ob du schlechter, genauso gut oder besser aussiehst. Entweder stärkt dieser Vergleich dein Selbstwertgefühl oder er nagt daran. Ich möchte mich nicht mehr mit anderen vergleichen, sondern in den Spiegel schauen und glücklich mit dem sein, was ich sehe. Diese ständige Suche nach etwas Besserem, Schönerem, Perfektem hat mich müde gemacht und dennoch verwerfe ich gelegentlich all diese Gedanken und stehe wieder vor dir, Spiegel. Manchmal schenkst du mir Selbstvertrauen und Zufriedenheit. Ich blicke in blaue Augen und du zeigst mir ein Lächeln. Aber ist es wirklich meines? Oder willst du mich nur in Sicherheit wiegen? Ich weiß, dass ich dir nicht immer trauen kann, denn es gibt Tage, an denen du mich zerstören willst. Dann versuchst du mich glauben zu lassen, dass ich hässlich und wertlos sei. Vor einiger Zeit hast du das geschafft. Aus Tagen wurden Wochen und aus Wochen wurden Monate. Eine gefühlte Ewigkeit mit unendlich schweren Gedanken und Emotionen. Ich kämpfte, wurde immer schwächer und konnte unter dieser Last kaum noch atmen. Egal wie lange ich vor dir stand – ich konnte nichts Liebenswertes sehen … nichts Lebenswertes. Meine innere Leere füllte mich aus und die allumfassende Stille schrie mich an, sodass ich fast taub wurde. Irgendwie schafftest du es, meine gesamte Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was mir nicht an mir gefiel. Ich sah und fühlte nur noch meine Behinderung, denn du hattest mir das Bewusstsein über meine Fähigkeiten geraubt und meine Schönheit versteckt. Doch mit der Zeit durchschaute ich dich. Meine Angst vor dir schwindet nach und nach. Ich drehe dich nicht mehr weg, um mich nicht sehen zu müssen. Ich alleine entscheide, wann, ob und vor allem wie ich dir gegenübertrete. Wenn es mir emotional schlecht geht, werde ich dich ignorieren, denn deine dunkle Seite würde mich eiskalt belügen. Sie nährt sich von meinen Tränen. Sie ist geschickt darin, alles Positive, was mein Spiegelbild offenbaren könnte, zu verstecken. Manchmal verletzt sie mich noch, aber ich habe gelernt, die mir zugefügten Wunden zu versorgen. Von Zeit zu Zeit blute ich stark und es fällt mir schwer, die Wunde zeitnah zu heilen. Alte Narben können wieder anfangen zu brennen, aber ich weiß, dass ich wertvoll bin. Ich habe viele Menschen um mich herum, die mir helfen, den Schmerz durchzustehen. Bevor mein Selbstbewusstsein an dir zerbricht, wirst du in 1.000 kleine Scherben zersplittern, Spiegel.
© Pascal Prihoda 2023-12-22