by Aylin Icöz
Vor einem Kaffeehaus am Zürichsee entfaltet sich vor dem Auge des Besuchers für sechs Franken ein vielschichtiges Spektrum des menschlichen Geschlechts: Gelächter, Umarmungen, Freudentränen, Handschläge, fröhliches Kindergeschrei, Liebschaften, Betrügereien …
Unter der Menschenmenge am gegenüberliegenden Fußsteig eine Straßenmusikerin: Mit Kurzhaarschnitt und gestreiftem Hosenanzug pflegt sie einen androgynen Habitus. Sie spannt den Bogen, streicht ihn über das Kolophonium und legt die Geige an ihren Hals. Mit geschlossenen Augen lässt sie den Bogen über die Saiten gleiten. Es ist der Augenblick, in dem die Szenerie den gepflasterten Boden des Alltags verlässt und das Reich des Unverfügbaren betritt. Ihr Geigenspiel evoziert das Bild eines Menschen, der durch die Hölle gegangen und in die Freiheit zurückgekehrt ist.
Die Klänge der Geige formen sich in meinen Gedanken zu einer grundlegenden Frage: Gibt es eine zweite Freiheit?
Eine, die im Gegensatz zur ersten Freiheit »Farbe« enthält – so wie ein persönliches Gespräch eine starre Fotografie um die »Färbungen« Bewegung, Gesichtsausdruck, Stimme und Augen ergänzt, die eine Begegnung erst richtig vervollkommnen. Eine, die keinen geringeren Abstand zur ersten Freiheit hat, als das Stück Wahrhaftigkeit, das sich in einem Vorspiel exakt in der Sekunde verflüchtigt, in der ein Musiker für das Publikum zu spielen beginnt, statt für den eigenen Geist, die eigene Befreiung.
Die Melodie am gegenüberliegenden Fußsteig endet und ob es eine zweite Freiheit gibt, bleibt vor allem eines: ein Geheimnis.
© Aylin Icöz 2025-01-23