Stumme Schreie

Luciana_Sajokava

by Luciana_Sajokava

Story

Eiskalter Boden, schwere Eisenketten an den Beinen. Der Sechsjährige zitterte, während er von einem Mann festgehalten wurde. Der Knebel erstickte jedoch jeden Schrei, jeden Versuch zu beißen, als dem Kind gewaltsam eine Nadel durch das Ohr zu stechen versucht wurde. Das kleine Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Was wollten diese Leute von ihm? Er wollte einfach nach Hause; einfach weg von hier. Doch das war unmöglich, und das würde auch so bleiben. Sein Atem ging schneller, als Tränen aus den grünen Äuglein zu fließen begannen. Zeugen purer Angst und Verzweiflung, wie sie es in letzter Zeit so oft gegeben hatte. Als der Mann es noch immer nicht schaffte, die Haut zu durchdringen, löste sich eine weitere Gestalt aus den Schatten der Kerkertüre. Ein weißhaariger Mann in prunkvoller Kleidung. Unter Flüchen riss er seinem Arbeiter die Nadel aus der Hand, sprach jedoch mit betont ruhiger Stimme. „Du darfst nicht so zaghaft sein, auch wenn dieser Bursche besondere Ware ist.“ Dazu gab er die Anweisung, das Kind noch fester zu halten, als er die Nadel hart und schnell durch die Haut bohrte. Es tat weh, so unglaublich weh. Doch der Schmerzensschrei des Jungen blieb stumm. Etwas wurde in die frische Wunde gesteckt, bevor sie das Kind losließen, welches sich auf dem Boden zusammenkauerte. Der Junge bekam nicht mit, wie er endlich allein gelassen wurde. Seine Kraftreserven waren verbraucht, doch der erlösende Schlaf machte es erträglicher. Für den Moment zumindest.

Der Frieden dauerte jedoch nur kurz an, als ein starkes Rütteln das Kind weckte. Gleich darauf wurde er von der Wache gewaltsam auf die Beine gestellt und am Nacken gepackt aus der Zelle geführt. Sofort war der Junge hellwach: Die Aufpasser interessierten sich sonst nie für die Gefangenen. Doch er wäre nicht so dumm gewesen, sich der Wache zu widersetzen. Immerhin kannte er die Grausamkeit dieser Menschen zu gut. An einer kleinen Treppe wartete bereits der Weißhaarige auf sie. Als sie ihm die Leinen auszogen, wehrte sich das Kind mit Händen und Füßen. „Willst du wohl stillhalten, du kleine-“, schrie der Wächter und hob die Hand. Reflexartig schloss der Sechsjährige seine grünen Augen, doch der erwartete Aufprall blieb aus. Der Sklavenhändler hatte die Hand abgefangen und schnauzte seinen Arbeiter an, dass man das Kind für die Kunden unversehrt lassen müsse. Kälte mischte sich mit Angst, brachten den Körper des Sechsjährigen zum Beben. Eines war klar: Was auch immer hier passierte, konnte nichts Gutes sein.

Auf der Bühne rutschte dem Knaben das Herz in die Hose. Wer waren diese ganzen Menschen? Mama! Papa! Wo seid ihr? Er kam neben dem Weißhaarigen zum Stehen, welcher grinsend zu sprechen begann: „Meine sehr verehrten Damen und Herren; wie versprochen nun unsere Hauptattraktion.“ Den Rest bekam der Junge nur dumpf mit. Irgendwas mit Tenoraner und Einzigartigkeit. Die Aufmerksamkeit der Gäste wurde auf das kleine Rosensymbol an der linken Hüfte des Knaben gelenkt, angeblich ein Beweis für die Seltenheit. Dann ging es los: Preise wurden hin und her gerufen, immer höher und höher. Dann Stille. Das Herz des Jungen raste, als jene Worte ertönten:

„Zum Ersten.“ Nein, bitte nicht. „Zum Zweiten.“ Ich will hier weg. „Zum Dritten.“ Mama, Papa, Hilfe.

„Verkauft.“

© Luciana_Sajokava 2024-07-31

Genres
Novels & Stories
Moods
Herausfordernd, Dunkel, Emotional, Hoffnungsvoll, Angespannt
Hashtags