“Ein Wolf!”, rufen mein Mann und ich wie aus einem Munde. Von links aus dem Wäldchen war der Wolf gekommen, hat Bruchteile von Sekunden die Lage gecheckt und sich für die Straßenquerung entschieden. So plötzlich wie er aus dem Nichts gekommen war, ist er wieder verschwunden. Mitten im kleinen Ort Werde. Um halb elf Uhr am Vormittag. “Die Wölfe müssen ihre Jungen sattbekommen. Da sind sie auch tagsüber unterwegs”, ist Jonathans logische Erklärung für diese einzigartige und höchst unerwartete Wolfsbegegnung. Jährlich kommen mehr Wölfe bei Verkehrsunfällen ums Leben als durch illegale Jagd oder natürlichen Tod.
Unsere heutige Expedition beginnt beim Niederspreer Teichgebiet. Der Großteich, der Rodeteich, der Neuwiesenteich halten bei jeder Wanderung neue Überraschungen bereit. Jonathan, ein Biologe, hat eine besondere Begabung, Insekten zu finden, weiß, wann und wo sie sich warum aufhalten. Christina ist Ornithologin mit Leidenschaft und einem absoluten Gehör, was Vogelstimmen anbelangt. Ich reiche ihr eine Feder, die mir der Zufall vor meine Füße legt. Christina lässt die Fahne durch ihre Hand gleiten, streichelt sie mit den Fingern und lächelt. “Was glaubst du?”, spannt sie mich auf die Folter. Ich rate ahnungslos. “Eine Feder vom Seeadler, eine Halbdune von der Flanke”, lautet ihre Expertise. Wenig später zupfe ich eine gedrehte Feder mit violettblauem Schimmer aus dem Gras. Ich lerne, dass mein Fund eine Erpellocke ist, eine mittlere Steuerfeder vom Stockentenerpel. Sie ist Teil seines Prachtkleides.
Mimikry ist die Überlebensstrategie des Zehnpunkt-Marienkäfers. Er ist auf Jonathans Rucksack gelandet. Der schwarze Marienkäfer mit leuchtend roten Punkten ist sehr variabel. Sein Rot warnt vor seiner Ungenießbarkeit. Auf dem Rispengrashalm turnt eine andere heimische Marienkäferart, der Blattfloh-Marienkäfer mit 14 weißen Flecken auf rotbraunen Flügeldecken. Wieder einer von ca 75 heimischen Marienkäferarten in Deutschland. Nicht ohne Grund hebt Jonathan eine Eisenplatte beim Großteich hoch. Auf dem Boden und auf Baumrinden ist sie kaum zu erkennen, die unscheinbar braun gefärbte Ringelnatter mit den gelben Halbmonden. Doch hier auf dem Betonsockel können wir sie bestaunen, bevor sie sich unseren neugierigen Blicken mit eleganten Schlängelbewegungen entzieht.
Jonathan inspiziert die angeknabberten Knoblauchrauken links und rechts des Weges. Er sucht gezielt nach Raupen des Aurorafalters, und er findet sie. Die grünlichen Raupen, ein paar Tage bis drei Wochen alt, schmiegen sich an die länglichen Schoten der Futterpflanze, sodass sie nur für sehr geschulte Augen wahrnehmbar sind. Ich starre ungläubig auf die Pflanze und kann die Räupchen beim besten Willen nicht sehen. Dann, endlich, springt der Funke über, und plötzlich sehe ich sie überall. Wenig später beugt sich Wiebke über das Schilf. Der Mondvogel hängt wie ein abgebrochener Birkenzweig unterhalb des Schilfblattes. Die Vögel vermag er zu täuschen, Wiebke und ich durchschauen seine Mimese vom Feinsten. Tagsüber “verschwinden” die Raupen des Roten Ordensbandes auf den Zweigen der Weiden und Pappeln. Sie aufzuspüren erfordert viel Geduld. Unserer kleinen Gruppe ist keine Mühe zu groß. Habt ihr sie auch entdeckt?
© Gabriele_Krele-Art 2023-06-07