Tränen aus Eis

Tamara Nessler

by Tamara Nessler

Story

Perfekt. Manch einer würde den heutigen Tag auf diese Weise beschreiben. Doch nicht ich. Würde man mich fragen, würde man mir bloß eine Sekunde Aufmerksamkeit schenken, wüsste man, dass dies nicht mein Traum ist. Eher mein Albtraum. Eine Hochzeit mit einem Fremden, dem König des Eises, verfrachtet in ein Land, in dem es unablässig schneit. Ich verstehe meine Eltern fürwahr nicht. Wie sie es akzeptieren, nein feiern, ihre einzige Tochter an einen Fremden ans andere Ende der Welt zu verkaufen.

Angewidert blicke ich in den Spiegel. Mein Kleid ist schneeweiß und durchscheinend. Der Rücken ist ausgeschnitten und das Dekolletee tief. Er begehrt zu sehen, was er sich gekauft hat, nicht wahr? Jahrelang diese Predigten über Unschuld und Ehre, bloß damit sie imstande sind mich heute an einen Fremden zu verhökern, angezogen wie eine Dorfhure. Mägde flechten den Rest meines weißblonden Haares zu prächtigen Zöpfen, da schwingt die große Flügeltür zu meiner Rechten auf. „Es ist an der Zeit“, lässt ein nobel gekleideter Herr verlauten. Wie im Gleichschritt treten alle von mir weg und betrachten mich in gespannter Erwartung. In Gedanken verloren beobachte ich die Bediensteten, die meisten sind mir unbekannt. „My Lady?“, haucht eine der Damen fragend. Ich atme tief durch die Nase ein, sodass sich mein Brustkorb hebt, und wieder durch den Mund aus. Es gibt keinen Ausweg. Mit diesem Gedanken im Kopf gehe ich den ersten Schritt zur Tür.

Ich höre die Kinder spielen, den Barden Singen und die Menge reden. Ein Duft von gebratenem Fasan steigt mir in die Nase. Dann sehe ich den Torbogen, der zum Innenhof des Schlosses führt. Dieser ist atemberaubend dekoriert, weiße Rosen, so weit das Auge reicht. In der Mitte ein Teppich aus Blütenblätter der zum Altar führt, umgeben von freudigen Bewohnern und adligen der Gegend. Die Balkone oberhalb des Hofes randvoll mit Menschen, alle in Feierlaune. Da ertönt ein Trompetenstoß und die Menge verstummt.

Sie richten ihren Blick auf mich. Ich spüre, wie mein Herz rast. Mit jedem Schritt, den ich gehe, schnürt sich mein Hals enger. Mit jedem Meter näher zum Altar, verdreht sich mein Magen ein Stück mehr. Das Knirschen der Rosenblätter unter meinen Füßen ist neben meinem klopfenden Herzen das einzige Geräusch, welches ich klar wahrnehme. Meine ganze Aufmerksamkeit ist bloß auf den Altar gerichtet, auf ihn. Seine Haut ist blass, als ob man durch sie hindurchsehen kann. Sein Haar ist weiß, wie Schnee und seine Augen hellblau, wie ein Gletscher in der Sonne. Seine Erscheinung gleicht einem Kunstwerk, einer Eisskulptur.

Ich habe den Altar nahezu erreicht und atme tief aus. Ein Schauer saust mir über den Rücken und meine Nackenhaare stellen sich auf. Furcht überkommt mich, während seine Augen meine finden und er mir ein grausames Lächeln schenkt. Da erreiche ich den Altar und stehe ihm gegenüber. Er beugt sich zu mir vor und greift nach meinem Kinn. Ruckartig zieht er mein Ohr zu seinem Mund und flüstert: „Du hast Angst, dabei habe ich dir keinen Grund dafür gegeben. Das werde ich aber noch.“ Die Träne, die mir daraufhin die Wange hinunterrollt, schafft es knapp bis auf Höhe der Mundwinkel, bevor sie zu Eis gefriert.

© Tamara Nessler 2023-08-30

Genres
Novels & Stories, Science Fiction & Fantasy
Moods
Dunkel, Emotional, Mysteriös, Angespannt