by Lara Farla
Ich träumte gestern von der Band „Ton Steine Scherben”. Im Traum lief ich durch Berlin und kam am ehemaligen Heinrichplatz vorbei, der nun Rio-Reiser-Platz heißt, benannt nach dem Sänger der deutschen Rockgruppe. Claudia Roth, jetzige Kulturstaatsministerin, weihte den Platz ein – sie war in den 80-erJahren Managerin der Band.
Träumend schlenderte ich die Oranienstraße entlang, die heute mit alten Eck-Kneipen und Clubs wie dem SO36 von der alternativen Szene und Touristen gleichermaßen geliebt wird. Die Straße ist voller Cafés, kleinen Klamottenläden, Tango- und Yogaschulen, (esoterischen) Buchhandlungen und stellt mit zwei Kilometer Länge ein schönes Beispiel Berliner Diversität und Verkehrschaos dar. Doch davon merkte ich im Traum nichts.
Ich ließ mich durch die Mariannenstraße bis zum Künstlerhaus Bethanien treiben. Das frühere Krankenhaus wurde 1971 von Ton Steine Scherben und Publikum besetzt und in Georg-von-Rauch-Haus umbenannt. Sie thematisierten in ihrem Rauch-Haus-Song eine dort stattfindende Polizeirazzia. Überhaupt waren die Texte von Liedern wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht” oder „Keine Macht für niemand” mit offener Systemkritik extrem politisch und so wurde die Band zur Symbolfigur des linken Widerstands. In meinem Traum war ich auf ihrem Konzert in Bethanien – die laute Musik mischte sich mit bunten Bildern und wilden Emotionen.
Aufgewachsen in der Nachkriegsgesellschaft brachte sich der als Ralph Christian Möbius geborene Rio Reiser Gitarre, Klavier und Cello bei und ging nach dem Abbruch einer Fotografenlehre mit 17 Jahren nach Berlin. Hier erlebte er den Mord an dem Studenten Benno Ohnesorg und das Attentat auf Rudi Dutschke. 1970 gründete er die Band und sie hatten einen ersten Auftritt auf einem Love-and-Peace-Festival, das von Beate Uhse gesponsert wurde. Mit ihrem sogenannten Agitpop erlangten sie in Berlin und anderen westdeutschen Städten, in denen sie auftraten, schnell Kultstatus. Irgendwann wurde der Druck bei jeder Protestaktion eine führende Rolle einzunehmen so groß, dass sie nach Nordfriesland zogen.
Die Band trat u.a. bei einem Konzert mit Rosa von Praunheim auf. Der Film- und Theaterregisseur und Aktivist der LGBTQ-Bewegung und inspirierte auch Rio Reiser sich auf persönlichere Themen zu beziehen, die z.B. in dem Song „Halt dich an deiner Liebe fest” zum Ausdruck kamen. Rio lebte in seinem Freundeskreis offen homosexuell, nahm aber Mitte der 80-er Jahre auch in den Medien Stellung. 1985 löste sich die Band auf und Reiser veröffentlichte 6 Alben, darunter den oft gecoverten Song „Junimond”.
In meinem Traum unterhielt ich mich mit Rio wie mit einem Freund. Ich fragte ihn über sein Leben, seine politische Rolle und Haltung. Wir liefen durch Kreuzberg und er erzählte mir, wie dieser Stadtteil zu seiner Zeit aussah. Dann träumte ich weiter von der Macht der Musik, die die Welt und Gesellschaft verändern kann: „Der Traum ist aus”.
© Lara Farla 2022-10-08