Im Gerichtssaal herrschte eine bedrohliche Stille, so, als hätte der Tod höchstpersönlich die Regie über diese Verhandlung übernommen. Robert machte eine Pause, trank einen Schluck Wasser und fuhr fort: »Die Zeit stand still und als ich plötzlich das Martinshorn hörte, nahm ich meine Tochter ganz fest in meine Arme und ließ meinen Tränen freien Lauf. Der Krankenwagen hielt neben dem Bündel, in dem Alexander lag und der Notarzt kam einige Minuten später zu mir. Er sprach mir sein Beileid aus und bat mich und den anderen Vater hierzubleiben, bis die Polizei an Ort und Stelle wäre. Ich erzählte ihm in groben Zügen was passiert war und dass ich unbedingt ins Krankenhaus zu meiner Frau müsste. Ich fragte ihn, ob er vielleicht Näheres wüsste, aber er verneinte. Nachdem die Polizei das Geschehene aufgenommen hatte, sagte mir der Einsatzleiter, dass der Staatsanwalt in wenigen Minuten eintreffen und die Leiche meines Sohnes freigeben würde. Einer der Jungs hätte gesagt, dass es ein Unfall gewesen wäre. Die vier Buben hätten sich um den Ball gestritten und das Mädchen hätte seinen Freund eines groben Fouls ihrem Bruder gegenüber beschuldigt. Daraufhin hätte sein Kumpel das Mädchen als blöde Gans bezeichnet. Die hätte dann mit der Faust ausgeholt, um ihn zu schlagen. Dabei hätte sie mit ihrem Ellenbogen ihren eigenen Bruder, der hinter ihr stand, auf den Kehlkopf getroffen. Der Junge wäre sofort nach hinten umgefallen, mit dem Kopf an die Barriere geprallt und untergetaucht. Später fuhr uns ein Beamter mit unserem Auto zum Krankenhaus. Man sagte mir, dass Brigitte einen anaphylaktischen Schock erlitten hätte. Brigitte schaffte es nicht. Sie starb wenige Minuten nach unserem Eintreffen an Multiorganversagen. In weniger als zwei Stunden hatte ich meine Frau und meinen Sohn verloren. Alexa stand unter Schock und erholte sich, das weiß ich heute, nie wieder davon. Es wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Trotz der vielen Therapien überfielen sie immer wieder Schuldgefühle am Tod ihres geliebten Zwillingsbruders. Ihre nächtlichen Albträume sind tief in meinem Gedächtnis hängen geblieben. Wir zwei legten dann schließlich ein Gelübde ab. Niemand sollte je von dem, was an diesem Tag passiert war, erfahren. An unserem neuen Wohnort schien das auch zu gelingen. Sie holte das Versäumte mithilfe meiner neuen Lebensgefährtin in der Schule nach und machte jeden Tag Sport. Ihre Angst vor dem Wasser legte sie ab, indem sie jeden Tag im Hallenbad ihre Runden drehte. Eine Therapie in den USA bei meiner Schwester nahm ihr die Angst vor Wasser. Oft tauchte sie tief hinunter und blieb lange unter Wasser. Sie antwortete mir einmal, als ich ihr sagte, dass mir diese Taucherei nicht gefallen würde, dass sie dort unten ihrem Bruder Alexander ganz nahe wäre und er sie immer wieder rechtzeitig nach oben schicken würde.« Robert drehte sich zu mir um, schaute mich an und sagte: »Sie wollte es dir erzählen, aber vertraute dir nicht mehr, weil du egoistisch geworden wärest. Sie beichtete mir ihre Affäre mit Roger und dass sie dich verlassen wollte. Das war am Vortag ihres Todes. Sie hatte ihre Gründe keine Kinder zu gebären und hätte dir die Wahrheit sagen müssen. Aber ihr instabiler Zustand ließ dies nicht zu. Du kanntest nur ihre Erscheinung, nicht aber ihr Innenleben, ihre unschuldige Schuld, die sich tief in ihrer Seele eingenistet hatte.«
© Wolfgang-Arnold Müller 2025-01-27