Mein Traum-Ich wandelte in einer trostlosen Gegend. Der Boden bestand aus festgetretenem, dunklem Lehm, wie mit Blut gefärbt. Das Dorf setzte sich aus windschiefen Hütten zusammen, provisorisch gehämmert aus morschen Holzlatten. Hier ragte ein scharfkantiger Splitter aus den Behausungen hervor, ein weiteres Beweismittel von rarem Besitztum, dort ein rostiger Nagel. Über allem spannte sich ein schiefergrauer Himmel. Die Wolken hingen niedrig und waren gefüllt mit Spannung, als würden Blitze in ihrem Inneren zucken.
Ich blendete meine Umgebung aus und besann mich auf die Mission, die vor mir lag: Papiervögel falten. Ich hatte kein hochwertiges Papier zur Hand, also gab ich mich zweckmäßig mit ausgeblichener Zeitung zufrieden. Vollkommen versunken in meine Arbeit, breitete ich die Blätter vor mir aus. Mit geübten Fingern faltete ich Vogel um Vogel. Keiner ähnelte dem vorherigen. Manche erzählten von Anmut, die Flügel grazil und die Schnäbel sanft geschwungen. Andere hatten einen plumpen Körperbau. Doch fliegen … fliegen konnten sie alle. Ich wusste, sobald ich sie in die Luft warf, würden sie der Schwerkraft trotzen.
Nach einiger Zeit war es so weit. Ich sammelte die Vögel in meinen Armbeugen und feuerte sie Richtung Himmel. Mein Gespür hatte richtiggelegen. Sie stiegen auf, höher und höher, klammerten sich an den Windböen fest und machten sich den Luftraum zu eigen. Für einen Moment war das Dorf erfüllt von raschelnden Flügelschlägen. Der Moment währte nicht lange. Ein Donner ließ die Welt erzittern, und einen Atemzug später prasselte eine wahre Sintflut auf mich nieder. Der Regen durchweichte die papiernen Leiber der Vögel und verwandelte sie zurück in unlebendige Kreaturen, die wie Steine vom Himmel sackten. Nur ein einzelner schaffte noch ein paar Flügelschläge, ehe er auf der Schulter einer Frau landete. Wie aus dem Nichts stand sie plötzlich vor mir. Und sie war nicht die einzige, die sich materialisierte. Bislang waren die Hütten einem Geisterdorf zugehörig gewesen, das nicht ein einziges Lebewesen beherbergte. Auf einmal jedoch wurden Türen aufgeschlagen, und hunderte Kinder sprangen um mich herum. Ihre Kittel sprachen die Sprache der Armut und ihre Haare waren verfilzt. Ihr Lachen aber perlte durch den Regen, während sie ebenfalls Papiervögel in die Lüfte zu werfen versuchten – als wollten sie mir beistehen und meinen Vogelschwarm wieder vervollständigen. Keiner ihrer Versuche war von Erfolg gekrönt. Der Lärm um mich herum verblasste angesichts der Gestalt der Frau. Ihre blonden Haare waren zu einem losen Pferdeschwanz gebunden und die Ärmel ihres blaukarierten Flanellhemds hochgekrempelt. Sie lächelte. Es war kein hinterlistiges Lächeln, doch aus irgendeinem Grund jagte mir plötzlich Eis durch die Adern. Wir sahen uns an. Es gab nur noch sie und mich.
Der Lehmboden weichte auf und wurde zu einer Schlammschicht. Der Dreck gluckerte zwischen meinen Zehen und perlte meine Schienbeine hoch. Die Papiervögel verschmolzen mit dem Schlamm. Ihre durchweichten, zerknitterten Flügel beugten sich der Elementarmacht der Frau, und so hauchten sie ihren Lebensatem aus. Von ihren Leibern sickerten Buchstaben in die Erde.
© Anika Schäfer 2025-03-27