Ultreia…

Die Pilger im Mittelalter benutzten dieses Wort, in einem Lied verpackt. Sie gaben damit ihrer Freude über ihre Ankunft in Santiago Ausdruck.

Gänsehaut bekam ich, als ich dieses kraftvolle Lied zum ersten Mal am Camino hörte. Die Melodie, der Text kam wie von selbst über meine Lippen. Und so stimmten wir uns am frühen Morgen singend auf den vor uns liegenden Tag ein. Schritt für Schritt immer weiter Richtung Westen, Richtung Santiago de compostela…

Heute, am 26.10.2020, begleitet mich dieses Lied ein letztes Mal auf der finalen Etappe vor Santiago. Nur zehn Kilometer sind es von Lavacolla bis nach Santiago. Am Camino in Spanien geben Wegweiser Auskunft über die noch zu bewältigenden Kilometer bis zum Ziel. Gestern war 13 km darauf zu lesen. “Unglaublich, da muss es sich um einen Fehler handeln”. So lange waren Kilometerangaben im dreistellige, zu Beginn sogar im vierstelligen Bereich darauf zu lesen.

So surreal es vom Gefühl her ist, heute mache ich gemeinsam mit Thierry, Alice und Marlow die letzten Schritte am Camino. Frühmorgens, es ist kalt, die Sterne funkeln über uns, machen wir uns auf den Weg. Thierry ist mit dem Rad unterwegs, schiebt es heute. Gestern ist die Kette gerissen, nach so vielen Kilometern, kurz vorm Ziel. Schön, dass wir gemeinsam diesen Teil der Strecke zurücklegen. Wir schwelgen in Erinnerungen, so oft haben wir uns in den letzten Wochen immer wieder getroffen und dann wieder aus den Augen verloren.

Kurz vor Santiago taucht plötzlich ein Regenbogen auf. Wunderschön steht er über der Straße direkt vor uns. Wie ein großes buntes Tor, durch das wir schreiten dürfen. Ein Geschenk. Fast kitschig, aber nur fast. Beschwingt und voller Freude erreichen wir das Ziel des Jakobsweges. Der Vorplatz der Kathedrale ist jedoch aufgrund Corona, nicht so belebt wie in “normalen” Jahren, um nicht zu sagen, wie leer gefegt.

Wir stehen überwältigt vor dem mächtigen Gebäude, gratulieren uns, sind stolz den Weg gegangen und heil angekommen zu sein. Liebe Pilgerkollegen, die bereits in den letzten Tagen angekommen sind, heißen uns herzlich willkommen.

Die Compostela, die Pilgerurkunde, ist der Nachweis für die abgeschlossene Pilgerreise. Im Pilgerbüro ist diese erhältlich, verrät die zurückgelegten Kilometer seit Beginn der Wanderschaft.

2579 km ist auf meiner zu lesen. Ich fühle eine Mischung aus Stolz, Ungläubigkeit, Freude und Neugier, was wohl vor mir liegen mag. Denn eines steht für mich fest. Santiago ist und war nie mein “Ziel”. Finisterre am Atlantik wartet auf mich! “Lass uns weitergehen, lass uns vorwärtsgehen! Ultreia!” An jedem Morgen da treibt’s uns hinaus, An jedem Morgen da heißt es: Weiter! Und Tag um Tag da klingt der Weg so hell: Es ruft die Stimme von Compostell’. Ultreïa, Ultreïa, et Suseia, Deus, adjuva nos!…