Von wegen „Wunder“, die gleich ums Eck warten. Gerade eben legte ich das Buch von meiner Lieblingsautorin aus der Hand. Sie hat begeistert davon erzählt, wie viele Wunder eigentlich ganz unbeachtet an uns vorbeiziehen. Nun muss ich mir die Sache im Alltag selbst einmal ganz genau ansehen. Wie viele Wunder werden mir an diesem neuen Tag wohl begegnen? Ich werde mich auf das Abenteuer, ein Wunder in meinem Tagesablauf zu finden, ganz intensiv einlassen.
Gleich am Morgen fängt meine Geschichte schon im Halbschlaf an. Während ich mich aus der Bauchlage aufrapple, hab ich das Gefühl, ich kann meine zusammengefalteten Hände nicht voneinander lösen. Ich fühle mich total bewegunseingeschränkt, weshalb ich gleich meinen Ehemann um Hilfe bitten möchte. Aber siehe da, auch meine Stimme funktioniert nicht. Langsam verfalle ich in Panik, als plötzlich das Licht um mich angeht. Ich erwache aus einem Alptraum. Ein Wunder, alle Körperfunktionen stehen mir wieder zur Verfügung. Ich fühle Dankbarkeit und sehe gleich ein weiteres Wunder. Mein Ehemann schläft neben mir, das ist auch keine Selbstverständlichkeit, nach allem, was er in letzter Zeit durchmachen musste und nach all der Sorge, die ich um ihn hatte.
Vor dem Fenster präsentiert sich ein wunderbarer Herbsttag. Ich bin gleich angezogen und bereit für den neuen Tag. Frühstück, Ordnung schaffen und dann ab ins Auto. Mit meiner Mutter fahre ich ja heute zur Kontrolle ins Krankenhaus. Die Straße ist wieder frei, nachdem gestern, nach dem ersten Herbstschnee, zahlreiche Bäume umgeknickt waren, welche jetzt neben der Straße kreuz und quer liegen. Auch ein Wunder, dass die Fahrbahn wieder in bester Ordnung ist.
Wir sind pünktlich am Ziel. Ich finde nahe am Haupteingang einen Parkplatz. Das ist mir so auch noch nie passiert. Darf ich wohl auch zu den Wundern des Tages zählen? Meine Mama wird dann gleich aufgerufen. Ich darf sie in den Behandlungsraum begleiten. Der behandelnde Arzt ist nett und kommunikativ. Zum ersten Mal sehen wir die Wunde am rechten Mittelfinger, der amputiert wurde: “Es hat sich schon eine glatte Narbe gebildet, alles ist gut verheilt”, sagt der freundliche Arzt. Ein frischer Verband kommt darauf und wir sind schon wieder weg.
Bei der Ausfahrt, am Parkplatzschranken, muss ich diesmal gar nichts bezahlen. Fällt noch unter die halbe Stunde gebührenfreie Zeit. Genau zwei Minuten bevor die Gratisparkzeit zu Ende ist, stecke ich meine Karte. Erraten, ein Wunder. Die Zufahrtsallee zur Autobahn bietet einen Anblick, welcher auch an ein Wunder grenzt. Die Bäume tragen ihr schönstes Herbstkleid. Vor der schneebedeckten Bergkette, welche den Hintergrund abschließt, ergibt das einen atemberaubenden Anblick. Die strahlende Herbstlandschaft begleitet uns auch während der Heimfahrt. Wundervoll. Und wir kommen auch wieder gut zu Hause an.
Zum Tagesabschluss denke ich darüber nach, was ein Wunder überhaupt ist und da fallen mir die Zeilen ein, welche ich im Internet las: „Ein Wunder ist ein Engel der aufpasst, dass der dünne Faden nicht reißt. Dass der dünne Faden nicht reißt, das ist ein Wunder”.
© Angela Buchegger 2020-10-16