Für Michi war das Wegbringen ein noch weitaus größerer Schlag in die Magengrube, denn er dachte, dass seine Familie ihn nicht mehr wollen würde und ihn deswegen außer Haus schaffte. Doch ganz im Gegenteil: Sie wünschten ihm, dass er die bestmögliche Hilfe und Unterstützung bekam, die man ihm nur bieten konnte. Durch seine geistige Unklarheit begriff er gar nicht, wohin man ihn überhaupt brachte, er wusste nur, dass er nicht Zuhause war.
Ärzte redeten an dem Ort auf ihn ein, man bot ihm Tabletten an, durch die es ihm besser gehen sollte. Doch er verweigerte sie, da seine Wahnvorstellungen dazu führten, darin nichts Gutes erkennen zu können. In seiner Vorstellung zierten Totenköpfe die Medikamentenpackungen, er dachte, die Menschen würden ihn vergiften wollen. Seine Mama, die ihn als Einzige dort besuchen durfte, überzeugte ihn schließlich davon, die Medizin einzunehmen.
Binnen kürzester Zeit hellte sich sein Gemüt wieder auf, die Tabletten schienen Wunder zu bewirken. Gleichzeitig machten sie ihn aber auch völlig k.o., wodurch er seinen ganzen längst überfälligen Schlaf nachholen konnte. Nach und nach begriff er, wo er gelandet war: In der Akutstation der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das Handy nahm man ihm ab, er durfte es nicht bei sich haben. Dadurch blieb ihm der Kontakt zur Außenwelt nahezu verwehrt, weshalb die Einsamkeit ihn hart traf. Er vermisste seine Familie und allen voran seine Mama.
Ständig unterzog man ihn neuen Tests und es stellte sich heraus, dass seine kognitiven Fähigkeiten weit unter dem Durchschnitt lagen. Schon die einfachen Merk- und Denkübungen fielen ihm zu Beginn seines Aufenthalts schwer. Es stand der Verdacht im Raum, dass er einen Hirntumor haben könnte, aber sämtliche Untersuchungen, wie MR und Gehirnstrommessungen, blieben ohne Befund. Die Ärzte kamen zu der Erkenntnis, dass eine Psychose seine Gedächtnisprobleme verursacht haben musste. Von da an blieb ihm nichts anderes übrig, als die Tabletten regelmäßig einzunehmen, um einen weiteren Zusammenbruch zu vermeiden. Wenn die Wirkung der Medizin nachließ, fühlte sich sein Leben wieder wie ein Albtraum an und es kam ihm vor, als hätte er die Lichtblicke nur geträumt.
Auch wenn man ihm in der Psychiatrie half, wieder Licht in seinem Leben sehen zu können, machte es ihn dennoch fertig, dort zu sein. Umgeben zu sein von anderen Kindern, denen es ebenso schlecht ging oder noch übler, brachte ihn fast um seinen Verstand. Einmal hatte er sogar miterlebt, wie ein Mädchen eine Glühbirne zerschlug und sich mit den Scherben ritzte. Als das gleiche Kind einige Tage später Geburtstag hatte und mit einem Messer ihre Geburtstagstorte anschneiden durfte, verfiel Michi in Panik, da er befürchtete, sie würde sich mit der Klinge etwas antun. Er konnte kaum beruhigt werden.
Als es ihm nach einer Weile etwas besser ging, wurde er endlich auf eine andere Station verlegt und vieles änderte sich…
© Jennifer Böhm 2023-01-07