Unsere Welt

Maxim Vincent Scheidt

by Maxim Vincent Scheidt

Story
Wohnblock

„Mama?“, fragte er.
Mehr konnte oder wollte er nicht sagen. Er war nicht traurig, nicht aufgeregt, auch nicht enttäuscht, sie war ihm schlichtweg egal.
In dieser Welt hatte er nur noch mich.
Ich sah es in seinen Augen, sah diese absolute GleichgĂĽltigkeit darin.
Ich schwieg. Selbst wenn ich wollte, ich konnte ihm keine Antwort geben.
Er hätte sie aber auch nicht verstanden.

Sie war selten zu Hause, lag wahrscheinlich wieder unter einer BrĂĽcke, in einer stinkenden Gasse oder wurde von gruseligen Schatten abgeschleppt, von denen einer vielleicht, vielleicht auch nicht unser Vater ist.

Wenn Mama doch mal nach Hause kam und durch die TĂĽr wankte, dann zog sie eine schwere, schwarze Gewitterwolke mit sich, die durch die Wohnung stĂĽrmte.
Es regnet Spritzen, es fliegen Dosen, Glas splittert auf dem Boden.
Wir kennen die echte Welt nicht, wir hungern schon immer in dieser.
Ich weiĂź nicht mal, ob wir in der echten Welt existieren.
Wir schlafen auf derselben, versifften Matratze, auf der uns Mama auf die Welt brachte.
Wenn wir aus dem Fenster sehen, dann sahen wir immer die gleichen, heruntergekommenen Betonblöcke. Unserer sieht genauso aus.

In unserer Welt ist es kalt, ist es dĂĽster.
Die halbe Wohnung ist nicht mehr bewohnbar, weil sich schwarzer Schimmel durch die Wände frisst.

Ich glaube nicht, dass wir Mama vollkommen egal sind, denn manchmal bringt sie diese Männer mit.
Hinter einem dünnen Vorhang bringt sie diese Monster dann zum Grölen, zum Schreien. Danach haben wir immer ein wenig Geld, um uns etwas zu Essen zu kaufen. Natürlich weiß ich, was sie macht.
So ist das in unserer Welt.
Mama sitzt weinend auf der Matratze und ich gehe einkaufen. So kennen wir das, so war es schon immer.

Mama war zwar da, aber nichts war gut.
Mama setzte sich einen Schuss und plötzlich war sie in einer weiteren Welt. In einer, in der weder wir noch unsere Probleme leben.

Es war später Sommer. Ich kam nach Hause, es war still. Ich schlich durch den Flur, sah Mama. Sie kniete über ihm. Ein Kissen lag auf seinem Gesicht. Er bewegte sich nicht.
Mama sah mich an. Mein Blick wechselte – lebloser, kleiner Körper – Mamas geschwollene Augen.
„Er hörte nicht auf zu schreien“, sagte sie weinerlich.


© Maxim Vincent Scheidt 2024-02-18

Genres
Novels & Stories, Suspense & Horror
Moods
Herausfordernd, Dunkel, Emotional, Traurig, Angespannt
Hashtags