Unter uns die Lichter der Stadt

dieGoldmarie

by dieGoldmarie

Story

Wir treffen uns am Fuße des kleinen Berges, auf dem sie steht, unsere Burgruine. Der Aufstieg ist eine Sache von 25, vielleicht 30 Minuten, wenn man es entspannt angeht. Ungefähr ab der Hälfte des Weges beginnt man dann, sie zu spüren. Die Stimmung, die die Ruine ausstrahlt. Wenn keine Einfamilienhäuser mehr den breiten Weg säumen, sondern man alleine ist mit dem Rauschen des Waldes, dem Vogelzwitschern und den Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch das Astwerk bahnen. Irgendwann verschränkt er ohne große Geste seine Finger mit meinen. Wie eine so kleine Bewegung mein Herz schneller schlagen lassen kann! Mittlerweile sind wir oben angekommen, leicht außer Atem, aber das lässt man sich vor dem Verehrer natürlich nicht anmerken. Der breite Eingang zur Ruine ist durch ein Metallgitter versperrt. Schon seit Jahren kann man das Gelände nicht mehr auf offiziellem Wege betreten. Wegen angeblicher Renovierungsarbeiten, von denen man aber nie etwas zu Gesicht bekommt. Bis zur Neugestaltung will ich ihren verwegenen Charme noch auskosten. Die Überreste der Mauern, die erahnen lassen, wie es hier vor hunderten von Jahren ausgesehen haben muss. Die Geschichte über das Burgfräulein, das sich hier aus Liebeskummer hinuntergestürzt hat, die jeder, der hier aufgewachsen ist, schon tausende Male gehört und mindestens genauso oft weitererzählt hat. Die unerschütterliche Ruhe und Kraft, mit der sie über unserem Stadtteil thront, erhaben und wunderschön.

Sonderlich schwer machen sie es uns nicht, der Absperrung zu trotzen. Während er noch unschlüssig am kalten Metall rüttelt, habe ich mich schon daran gemacht, über die kleine Steinmauer daneben hineinzuklettern. Anscheinend eher so der Typ pflichtbewusster Langweiler, aber ich finde ihn irgendwie süß. In den inneren Bereich der Burg kann man ohne aufwändigere Kletteraktionen nicht vordringen, also führe ich ihn zum hinteren Teil des Burggeländes. Dorthin, wo man den schönsten Ausblick hat. Die Sonne beginnt langsam, sich hinter den Hügeln zu verkriechen und taucht den Himmel in ein magisches Licht. Wir reden, lernen uns besser kennen, suchen die Dächer der Stadt ab nach den Orten, die uns etwas bedeuten. Ich könnte ewig hier stehen, an die Mauern aus vergangenen Zeiten gelehnt und meine Umgebung in mich aufsaugen. Wie kann man so einen Ort versperren? Sollte man nicht jeden teilhaben lassen an dem Zauber, den er versprüht? Mit der einsetzenden Dunkelheit wird die Stadt immer heller. Ein atemberaubendes Lichtermeer. Ich schließe für einen Moment die Augen, blende alles aus. Und lasse den Ort auf mich wirken, diesen Ort, an dem wir nicht einmal sein dürften. Als ich sie wieder öffne, streckt er mir seine Hand hin. Ich nehme sie und gemeinsam betrachten wir die Lichter. Über uns die Lichter der Sterne. Und unter uns die Lichter der Stadt.

© dieGoldmarie 2022-06-29