Unvorhergesehen

Luca Suse Hahn

by Luca Suse Hahn

Story

In dem Moment lässt sie ihre gespaltene Zunge hervorschnellen und stößt ein Zischen aus, das an meinen Trommelfellen zerrt. Die Kronleuchter bestehen ganz und gar aus Kerzen und sich windenden Schlangen. Als hätten sie nur aufs Stichwort ihrer Artgenossin gewartet, wenden alle Mehrhäuter mir die Köpfe zu und reißen die Münder auf. Fyn packt meine Hand und zieht mich hinter sich her. Er lässt sie auch nicht los, als wir ein silbern bezogenes Bett erreichen und auf Händen und Knien über die Matratze krabbeln. Funkelnder Silberstaub stäubt zu allen Seiten auf. Fyn erreicht die Bettkante als Erster. Schwungvoll zieht er mich vom Bett und rennt durch den schweren Brokatvorhang. Ich stolpere hinter ihm her.

“Ich glaube… du kannst stehen… bleiben”, keuche ich. Wir sehen zu dem Vorhang zurück. Kein Geräusch ist mehr zu hören. “Ich denke, sie können ihren Raum nicht verlassen”, sage ich. Ich weiß, wie verrückt es sich anhört. Ein Vorhang – die sicherste Barriere der Welt? Aber jede Faser von mir ist davon überzeugt. Fyn entgegnet nichts. Wir lassen unsere Blicke durch den Raum schweifen. Es hat nichts mehr von einem Zugabteil. Die rötlichen Wände sind bunt bemalt und erstrecken sich meterweit in die Höhe. Urige Fenster mit schmalen Streben reihen sich übereinander, rahmen die Rundbögen ein. Hinter den Scheiben verliert sich der Blick in substanzloser Leere. Das Dach wölbt sich in der Ferne über uns. Ein Mosaik aus unzähligen Fenstern, die wie tausend Augen auf uns hinunterblicken.

Fahrig wische ich mir meine schweißnassen Hände an der Jeans ab. Einfach weiter?, lese ich Fyns Augen. Mir schwirrt derselbe Gedanken durch den Kopf. Mein Kopf wirft ihn hin und her wie einen Eindringling. Er kommt nicht von mir – er drängt sich mir auf. Meine Füße bewegen sich wie von selbst ins nächste Abteil. Noch bevor ich den Vorhang am Ende der Halle halb aufgeschoben habe, kann ich das Ticken hören. Ein unablässiges Surren wie von flatternden Flügeln eines unruhigen Schwarms. Jeder Zentimeter ist von Uhren bedeckt. Sie nehmen den ganzen Raum ein. Runde Wanduhren, hölzerne Standuhren, Purzelbaum schlagende Wiesel, die zusammen wie ein Sekundenzeiger nach vorne rücken. Der Elf entgegen. Ist es schon so spät? Wie aufs Stichwort knurrt mein Magen und erinnert mich an den Kuchen, den ich noch immer an meine Brust presse. Ich schiebe den Deckel herunter. Fast hätte ich die Schachtel fallen lassen. Aus der Schachtel drängt etwas Papierenes hervor. Buchstaben ziehen an mir vorbei, schneller, als ich sie lesen könnte. Mit einem sanften Plumpsen landet es auf dem Teppichboden. Es ist ein Wurm. Seine knittrige Haut ist über und über mit schwarzer Tinte beschrieben. Die Seiten rascheln im Wind, als er durch einen Riss im Vorhang verschwindet.

Staunend fahre ich zu Fyn herum. Nur steht er nicht mehr länger hinter mir.

Ich suche den Raum nach ihm ab. “Fyn?”

Keine Antwort. “Fyn?”

© Luca Suse Hahn 2023-08-07

Genres
Science Fiction & Fantasy
Moods
Adventurous, Lighthearted, Mysterious, Komisch
Hashtags