Urgroßvater Sigmund

Nele Eberhardt

by Nele Eberhardt

Story

Tief in seinem alten, abgewetzten Sessel versunken, wie sein mürrisches Gesicht in seinen Falten, saß er da. Mein Urgroßvater Sigmund. Genüsslich zog er an seiner hölzernen Tabakpfeife, die so gar nicht in dieses Jahrhundert passen wollte. Und erst recht nicht zu seinem Befund: “Lungenkrebs”. Urgroßvater hustete, laut und grollend, als er den Rauch langsam aus seinen Lungen entweichen ließ. Ich warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. “Ach”, er zuckte mit den Schultern und nahm demonstrativ noch einen Zug, bevor er hinzufügte: “Unkraut vergeht nicht, meine Kleene!” Er verzog seine rissigen Lippen zu einem Grinsen, was eine Reihe gelber Zähne offenbarte. Dann – wie um mich davon zu überzeugen – beugte er sich vor, um meine Schulter zu tätscheln. Dabei war ihm sein dicker Bauch im Weg. Sofort ließ er sich wieder, mit einem Stöhnen der Anstrengung, in seinen Sessel fallen. Ja, Urgroßvater war zäh. Ich wusste nicht so genau warum. Ich wusste nicht einmal, wie alt er tatsächlich war. Seit ich klein war, feierten wir jedes Jahr seinen 80. Geburtstag. Die Tatsache, dass er damit nun fast genauso alt war wie sein eigener Sohn, ignorierte er geflissentlich. Ich wusste nur, dass er so schlecht kochte, dass Ma Angst hatte, er würde sich noch selbst vergiften. Daher hatte man es mir zur Aufgabe gemacht, ihm jeden Tag nach der Schule, vollgepackt mit Tupperware, einen Besuch abzustatten. Keine Ahnung, was sich Ma damit erhoffte – schließlich war ihr Essen abscheulich! Um ihre beneidenswerte Figur nicht zu verlieren, probierte sie beinahe jeden Monat eine neue Diät aus und verdammte alle dazu, ihrem “großartig gesunden Beispiel” Folge zu leisten. “Die ganze Familie muss mitziehen, sonst bringt es nichts!”, hatte sie herrisch verkündet. Pa hatte mir daraufhin nur eindringlich zugeflüstert: “Wenn sich diese eindrucksvoll große, gertenschlanke Frau Kochlöffel-schwingend vor dir aufbaut und böse anblitzt, dann widersprichst du nicht… Sonst Gnade dir Gott!” Natürlich widerspreche ich Ma nicht – ich war doch nicht lebensmüde! “Was probiert sie diesen Monat aus?”, fragte Urgroßvater brummend und linste vorsichtig in die Schüsseln hinein. “Zuckerfreies Essen.” Ein hinterhältiges Grinsen schlich sich auf sein Gesicht: “Oh, das wird den Riemanns überhaupt nicht schmecken!” Er hievte sich aus seinem Sessel, griff nach den Schüsseln und schlurfte durch seine Wohnung zu der Tür gegenüber. Wenn Urgroßvater eines hasste, dann waren es Veränderungen. Doch tatsächlich hatte es sich ein junges Ehepaar erdreistet, in die leerstehende Wohnung von gegenüber einzuziehen. Als wäre ihr dynamisches Alter, ihr guter Gesundheitszustand und ihre glückliche Ehe nicht schon eine Straftat genug für den alten, kranken und einsamen Sigmund, hatte das Paar auch noch “zwei ungezogene Bengel, zwei Teufelsbraten”, wie er sie nannte. So fand Urgroßvater seinen neuen Lebenssinn darin, den jungen Nachbarn das Leben schwerzumachen. “Ach, Herr Krone, das ist zu freundlich von Ihnen, aber das können wir doch nicht annehmen!”, hörte ich den armen Herrn Riemann, wie er verzweifelt versuchte, das furchtbare Essen abzuwimmeln. “Aber nicht doch, mein Lieber! Meine Urenkelin und ich haben uns so viel Mühe beim Kochen gegeben. Was wäre ich denn für ein Unmensch, wenn ich das nicht mit meinen Lieblingsnachbarn teilen würde?” Mit einem zufriedenen Lächeln kam er zurück in seine Wohnung geschlurft: “Wollen wir Pizza bestellen?”

© Nele Eberhardt 2023-04-29

Genres
Novels & Stories