by Corbiart
Kapitel 15 – der Erzähler der Schatten
Der Regen trommelte leise gegen die uralten Fenster aus schwarzem Glas, die tief in den Mauern der vampirischen Zitadelle eingelassen waren. Das Feuer knisterte gedämpft im Kamin aus obsidianfarbenem Stein. Rotes Licht tanzte auf den silbernen Gravuren der Wände, auf den Waffen, den alten Büchern – und auf dem Gesicht des Mannes, der dort saß.
V.
Sein Blick war ruhig, wachsam, doch fern. Die roten Strähnen in seinem rabenschwarzen Haar schimmerten im Feuerschein wie Flammen. Sein rechter Arm lag entspannt auf der Lehne des Stuhls, der Dolch hing in einer dunklen Scheide an seinem Gürtel. Der Fledermaus-Tätowierung an seinem Hals zuckte leicht – ein Zeichen, dass Nyx in der Nähe war. Vor ihm saßen die beiden Kinder. Sina, mit wildem dunklem Haar, das ihr bis über die Schultern fiel, und Carli, der Jüngere, kaum älter als zehn, mit leuchtenden Augen, die wie Bernstein in der Dunkelheit schimmerten. Beides Warg-Kinder. Beide geprägt von Fähigkeiten, die sie nicht ganz verstanden – noch nicht. Sie hatten gelauscht, ohne ein Wort zu sagen. Seit Stunden. „Und das“, sagte V mit tiefer, leiser Stimme, „war, wie mein Weg begann. Wie ich fiel, verwandelt wurde, kämpfte … und schließlich Schattenhain gründete. Wie ich die Schattenoase fand – und den Dolch.“ Carli rückte ein Stück näher, fast ehrfürchtig. „Und … dann?“ V lächelte schwach – kaum sichtbar, aber für Sina genug, um es zu bemerken.
„Dann begann das, was man ein Leben nennt, auch wenn man keines mehr im herkömmlichen Sinn führt.“ Sina neigte den Kopf. „Warum hast du uns das erzählt?“ Er sah sie lange an. „Weil ihr wissen müsst, woher ihr kommt. Und worauf ihr zusteuert. Die Schatten bewegen sich wieder. Eure Gabe … wird euch mehr kosten, als ihr denkt. Aber sie kann auch retten, wenn ihr lernt, sie zu führen – wie ich lernen musste, meinen Fluch zu meistern.“ Draußen rollte ein ferner Donner. Der Wind peitschte gegen die Tür der Festung, doch drinnen war es still. Fast ehrfürchtig.
V stand langsam auf, sein Umhang glitt lautlos hinter ihm her.
„Geht jetzt. Ruht euch aus. Morgen beginnt euer Training.“ Die Kinder erhoben sich, verbeugten sich leicht und verließen den Raum.
Allein zurück, trat V an das hohe Fenster und blickte hinaus in die Schatten, die sich über das Land legten.
Er schloss die Augen.
In der Tiefe seines Herzens, zwischen Dunkelheit und Erinnerung, lebte der Junge aus der Schanze noch immer – verborgen, vernarbt … Aber lebendig.
Und dies war sein Vermächtnis.
© Corbiart 2025-05-01