„Wissen Sie, nach der Schule, war ich in Chile und habe an Ecken und Enden geholfen an denen es nötig war. Das war die ehrlichste Zeit in meinem Leben. Ich dachte damals, ich würde mein Leben zu etwas Sinnvollem nutzen. Etwas, was Menschen berührt. Heute stehe ich in der Öffentlichkeit. Meine Stimme ist laut, ich würde sie so gerne nutzen. Aber das geht nicht, das Königshaus würde wahrscheinlich öffentlicheHinrichtung wieder auf die Tagesordnung schreiben. Ich könnte ungemütlich sein, Probleme bekämpfen, in Skandalschlagzeilen über mich könnte so viel Besseres stehen als „‘Herzogin Kate gibt sexy Einblicke, Kleid ist hoch geweht‘ oder: ‚Skandal um Königshaus: Herzogin Kate im Liebesurlaub, oben ohne fotografiert!‘. Ich verbreite nur den Schwachsinn, dass kurze Röcke schlecht sind, dass Frauennippel anstößig sind. Eine höchst altertümliche Ansicht, die zu nichts Gutem geführt hat, nur dafür da ist, Frauen einzuschränken, ihnen die Schuld für sexuelle Übergriffe selbst in die Schuhe zu schieben.“ Jetzt schrie sie fast. „Ich habe die Mädchen gesehen, die dringend ein gutes Vorbild gebraucht hätten. Ich WAR eines von diesen Mädchen. Ich habe mir so gewünscht dieses Vorbild sein zu können. Heute, überkommt mich die Wut, jedes Mal, wenn ich eine Zeitschrift aufschlage und so einen Artikel von mir vor mir sehe. Die Wut auf mich selbst, auf den Menschen zu dem ich geworden bin, die Wut auf die Medien, die Wut auf die Fesseln, die mir die Hände binden. Ein Vorbild, ohne Gesicht, ohne Schatten, Ecken und Kanten, das hat die Welt nun wirklich nicht gebraucht. Von den Medien zum Püppchen gemacht.
Ich könnte so viel mehr sein als der Schatten eines reichen Mannes. Darüber hat noch keine Zeitung geschrieben. Ich spreche drei Sprachen fließend, ich kenne mich in der Kunst aus, ich bin die beste Hockeyspielerin weit und breit. Doch das alles, das weiß niemand. Dabei beobachten sie mich den ganzen Tag. Ja, sie verfolgen mich regelrecht und doch sehen sie mich nicht, sehen nur eine hübsche Frau, mit viel zu kurzen Röcken. Unzählige Frauen werden diesen Artikel heute lesen und sich schämen, für die Kleidung, die sie tragen und die Nippel die sie haben. Dabei sind es nicht sie, die sich schämen sollten. Es sind die anderen.“
Plötzlich verstand Kokou die wütende Frau, die noch immer mit einer Gurke in der Hand auf der Bank saß. Er konnte sogar mit ihr fühlen. Irgendwie. Die Menschen sahen sie an und sahen sie nicht. Er wollte so viel sagen, doch das plötzliche Schreien eines Fotografen unterbrach seine Gedanken. Die Frau, deren Gesicht jetzt wieder Porzellan-weiß war, wischte sich die letzte Träne von der Wange, stand auf und setzte sich ein Lächeln ins Gesicht, während der Fotograf sie umkreiste. Kokou hob sein Stofftuch vom Boden auf, warf einen letzten Blick auf die Porzellanfrau, stand auf und ging nach Hause.
© Valentina Weiss 2021-08-14