by Travelbird
Was erwartet mich in der Stadt der Toten, der heiligen Stadt Varanasi? Strenger Todesgeruch? Melancholie? Entschleunigung? So wie heute, am Ostersonntag, der Sieg des Lebens über den Tod durch die Auferstehung Jesu gefeiert wird, pilgern Hindus nach Varanasi, um dem Kreislauf der Wiedergeburten zu entkommen.
Auf der Hauptstraße drängen sich Frauen in bunten Saris, Sadhus – heilige Männer in orangen Roben, Yogis und Suchende aus aller Welt eng aneinander. Händler aller Art säumen die Gehwege. Dazwischen Scooter, Rikschas, Kühe und streunende Hunde. Diese Stadt ist alles andere als tot. Ruhe in Frieden? Überall. Nur nicht hier! Die ohrenbetäubende Kakofonie steht meiner Faszination der »Stadt der Erlösung« gegenüber. Es ist DIE Stadt der Extreme, in der sich Leben und Tod wie selbstverständlich ergänzen, in der der »holy dip« im Ganges von Sünden reinigt, während Leichen nur einen Meter entfernt auf Holzscheiten verbrennen und Bauruinen zum »Golden Palace« auferstehen. Die Stadt ertrinkt im Dreck, dennoch verliebe ich mich unsterblich in die lebendige Stadt der Toten. Leben und Tod. Hier finde ich ihre Bedeutung.
Varanasi, auch Benares oder Kashi genannt, ist das Pendant zu Mekka, Rom, Jerusalem und Uluru. Es liegt am Ufer von »Mother Ganges«, die die Stadt wie ein Halbmond umfließt und sie geborgen in ihren Armen hält. Hindus glauben, dass Shiva, Gott der Schöpfung und Zerstörung hier lebt. Er gilt als Herrscher über die Zeit, steuert die Gezeiten, wie der Halbmond in seinem Haar symbolisiert. Das Versprechen der Stadt ist nichts Geringeres als die Endlichkeit menschlichen Leidens.
Zahlreich liegen die Toten auf den lodernden Holzscheiten entlang des heiligen Flusses aufgebahrt, die nach Gewicht verkauft werden, bevor ihre Asche »Mother Ganges« übergeben wird. Die Seele reist von hier auf direktem Wasserweg gen Moksha – dem hinduistischem Äquivalent zum Nirvana. Der Tod riecht überraschend gut. Süß. Es ist das Sandelholz. Stille Trauer suche ich vergebens. Während die Einen sehr lebendig im heiligen Nass baden oder ihre Kleider, ohne sich dieser zu entledigen, reinigen, verbrennt menschliches Fleisch nur einen Meter entfernt.
Einzig die Augen der Unberührbaren, Angehörige der untersten Kaste, tragen Trauer, wird ihnen die Aufgabe der Verbrennungen zuteil. Schon Gandhi verlangte die Auflösung des Kastensystems, das sie per Geburt zu jenen Aufgaben verdammt. Schlechte Karma aus dem Vorleben könne dieses Leben nicht rechtfertigen. Wie wahr.
Dreimal täglich laden die Ghats, die Flussstufen zum Gebet ein, das heilige Männer anleiten, indem sie ein Feuerzeremoniell abhalten, Mantras anstimmen und beten. Ich setzte mich abends zu den Tausenden Gläubigen dazu, chante vertieft mit, während vor mir die gelbe Abendsonne, in dem von Kerzenschein beleuchteten Wellen, versinkt. Der Geruch von Sandelholz und Marihuana versetzt mich in Trance. Angst vor dem Tod? Nein, ab heute nicht mehr. Namaste!
© Travelbird 2021-04-04