Verknallt

Laura-Luisa Neitz

by Laura-Luisa Neitz

Story

SIE

Es ist nicht schlimm, einen Knall zu haben. Die Schwierigkeit besteht aber darin, jemanden zu finden, dessen Knall mit dem eigenen möglichst kompatibel ist.

Ich weiß nicht mehr, wo ich diesen Spruch aufgeschnappt habe. Doch ich kann mich noch genau daran erinnern, als ich IHN zum ersten Mal gesehen habe.

Die Tasche lässig über der Schulter hängend, trat er durch die Tür ins Klassenzimmer. Wie das unnahbare Mitglied einer bekannten Indie-Rock-Band. Einerseits lässig, andererseits irgendwie planlos. Als würde er über den Dingen stehen und in Gedanken ganz woanders sein. Er war anders als die anderen und genau das hat mich von Anfang an fasziniert. Normal gibt es viel zu oft. Normal ist Durchschnitt. Normal ist nicht mein Ding.

Ein kleines bisschen verknallt habe ich mich sofort. Aber war es Liebe auf den ersten Blick? Das Wort Liebe klingt zu mächtig für einen einzigen Sekundenbruchteil. Ein Urknall ist laut, aber gut Ding will Weile haben und sich leise entwickeln. Liebe muss wie ein Baum wachsen, sich entfalten und gepflegt werden. Um jemanden lieben zu können, muss man alle oberflächlichen Schichten abtragen, Idealvorstellungen über Bord werfen und den Kern des anderen respektieren. Mit allen Lichtblicken und Stärken, aber vor allem mit all den Schatten, Marotten und Macken. Und davon hat er mindestens genau so viele zu bieten wie ich.

Ehrlich gesagt habe auch ich mich zunächst von oberflächlichen Faktoren leiten lassen. Vielleicht waren es die Pheromone, vielleicht die schüchternen Blicke, die ich ihm immer wieder möglichst unauffällig zugeworfen habe. Komischerweise blieben sie meistens an seinen langen, feingliedrigen Fingern hängen. Vielleicht habe ich mir schon damals unterbewusst vorgestellt, was sich damit alles anstellen ließe. Niemals zuvor und auch nie wieder danach habe ich männlichen Händen mehr Beachtung geschenkt. Eines habe ich trotzdem übersehen. Er trug nie eine Uhr.
Dass er es mit der Uhrzeit nicht so genau nimmt, habe ich direkt bei unseren ersten Dates zu spüren bekommen. Wie lange er mich warten ließ, weiß ich heute nicht mehr. Aber es war lange. Sehr lange. Ich weiß noch genau, wie angefressen ich war. Nichtsdestotrotz habe ich gewartet. Der Ärger war groß, aber meine Neugier größer. Ich musste einfach herausfinden, was sich hinter der undurchschaubaren Fassade versteckt. Das, was ich fand, überrascht mich bis heute jeden Tag aufs Neue.

Unpünktlichkeit war schon immer sein großes Problem, Geduld zum Glück eine meiner größten Stärken. Und ganz nebenbei hatte sein fehlendes Gespür für Zeit auch einen großen Vorteil: Er ist nicht nur zu spät gekommen, sondern auch sehr spät gegangen. Jedes Mal blieb er länger. Manchmal hat er ganz klischeehaft die letzte Bahn verpasst. Ich weiß bis heute nicht, ob er es mit Absicht gemacht hat oder ob es schlicht und einfach an ADHS lag.

Irgendwann ist er ganz geblieben.

© Laura-Luisa Neitz 2024-03-07

Genres
Novels & Stories
Moods
Emotional, Hoffnungsvoll, Reflektierend
Hashtags