Seit dem Tod meines Mannes habe ich es nicht gewagt, allein zu verreisen, immer habe ich Kinder, Enkelkinder, sogar meine Eltern oder eine Freundin mitgenommen. Dieses Jahr bin ich mutig und reise im eigenen Auto ganz allein auf die Shetland-Inseln. In Rotterdam nehme ich die Fähre bis Nordengland, fahre im Auto hoch bis Aberdeen, dann wieder mit dem Schiff bei starkem Wind und interessantem Seegang nach Lerwick, der schnuckeligen „Hauptstadt“ der Shetlands. Bereits in Schottland bemerke ich, dass Verkehr und Menschen, je weiter ich nach Norden komme, immer ausgeglichener wirken. Die Melodie der Sprache hier transportiert eine ganz eigene Ruhe und Gelassenheit. Es muss an der wilden, weiten Landschaft liegen, denke ich, sie macht den Menschen kleiner und unbedeutender.
Die Shetlands sind von gewaltiger Schönheit. Braune Berge, tiefgrüne Wiesen und blaue Wasser vor zerrissener Küste leuchten im Sonnenschein, strahlen mir ein tiefes Glück ins Herz. Immer wieder halte ich an, hingerissen vom Schattenspiel der Wolken auf den Berghängen, von den Schafen und Ponys, die sich wie absichtlich als malerische Silhouetten auf den Kämmen bergiger Weiden aufbauen; und hingerissen bin ich auch von den bezaubernd in die Landschaft gestreuten Häusern, Gehöften und den Ruinen längst verlassener Häuschen. Jede noch so kleine Ortschaft an der Küste, einem Loch (See) oder einem schmalen Meeresarm hat einen eigenen Hafen mit bunten Booten. Alles wirkt sauber und aufgeräumt, sogar die einzelnen Öl-Bohrtürme weiter draußen im Meer.
Direkt vor meinem Hotel in Brae liegt einer der zahlreichen, weit ins Land gezogenen Fjorde, die hier Voes genannt werden. Je nach Wetter funkelt er silbern oder tiefblau. Einmal zieht dort ein Wal entlang, was sogar das Hotelpersonal ein wenig in Aufregung versetzt. Es ist herrliches Wetter, als ich den Leuchtturm im Norden über den steilen Eshaness-Klippen besuche. Er ist in Betrieb, enthält aber auch eine Ferienwohnung. Die Aussicht von den Steilklippen aus Vulkangestein ist einfach grandios! Zahllose Seevögel leben hier, unermüdlich brandet der Nordatlantik unten an die Felsen, sprüht weiße Gischt mit jeder brechenden Welle. Hinter mir die weite Landschaft aus grün und braun; auch schwarz dort, wo Torfgräben sind.
Jeder einzelne Tag beschert mir einzigartige, neue Erlebnisse: kleine, private Museen mit integrierten Läden, die kunsthandwerkliche Arbeiten anbieten, ein unglaublich winziges Postamt, betrieben von einer sehr betagten Dame, eine Hauptstraße, die gesperrt wird, wenn sie als Startbahn des Flughafens dient, Schilder, die vor überquerenden Ottern warnen, Kirchen und Friedhöfe mit verwitterten Steinen, im Süden eine Ausgrabungsstätte aus der Bronzezeit mit Zeugnissen der Besiedlung von Pikten, Wikingern, Norwegern – es gäbe noch so viel zu erzählen. Ich bin total verliebt in die Shetlandinseln mit ihren warmen, braun-grünen Farben und der immer freien Sicht.
© Gerda Greschke-Begemann 2021-02-28