Ausnahmsweise habe ich ein gutes Gefühl. Mit freudigem Blick warte ich darauf, dass mir meine Arbeit ausgeteilt wird. Mein Sitznachbar hat ein Lächeln im Gesicht und freut sich augenscheinlich über eine positive Note. Nun bin ich an der Reihe und nehme die Arbeitsblätter von meinem Lehrer entgegen. Dieser wendet sich von mir mit einem Kopfschütteln ab. Mein Lächeln verschwindet in dieser Sekunde, denn ich kann die Benotung sofort sehen. Mit einem roten, dicken Edding steht rechts oben am Blatt etwas geschrieben. In meinen Augenwinkeln sammeln sich Tränen, die ich zu unterdrücken versuche, doch es gelingt mir nicht. Alle anderen zeigen mit dem Finger auf mich und beginnen laut loszulachen. Ihr Lachen wird immer lauter und sie alle lassen mich an der Belustigung teilhaben mit ihren Blicken. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und lasse es über mich ergehen. Es gibt keinen Ausweg. Den gibt es für mich nie.
Ich weiß nicht wie viele Arbeiten ich in den letzten Monaten gefälscht oder versteckt habe, damit ich sie meinem Vater nicht zeigen muss, weil ich sie ihm nicht zeigen will. Ich weiß was dann passiert. Es passiert eigentlich immer dasselbe. Er packt dann seinen Gürtel aus und beginnt. Ich wäre ein Versager und würde nie an die Leistungen meiner Geschwister herankommen. Ich wäre eine Enttäuschung und sie wünschten ich wäre nie geboren worden. Manchmal wünsche ich mir das auch. Meine Lehrer nehmen mich schon lange nicht mehr ernst, eigentlich noch nie. Bei jedem blauen Fleck oder jeder noch so auffälligen Verletzung werden Ausreden gesucht oder meine Geschichten abgetan. Ich würde Lügen erzählen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Ja, da haben sie recht. Ich suche Aufmerksamkeit, denn ich will, dass es endlich ein Ende hat. Niemand glaubt mir, niemand sieht mich, niemand liebt mich. Ich bin allein.
Auch an diesem Tag habe ich meinem Lehrer erzählt, welche furchtbare Angst ich hätte nach Hause zu gehen, dass ich nicht mehr kann. Fehlgeschlagen. Wieder keine Hilfe, doch heute helfe ich mir selbst. Als ich zitternd und unter Angst die Türschwelle von meinem zu Hause betrete, höre ich meinen Vater bereits herumschreien. Ich zucke bei jedem Wort zusammen und mein Blick senkt sich in Richtung Boden.
Ich schleiche die Treppen hinauf in mein Zimmer, doch er hat mich bereits bemerkt. Ich verschließe die Tür, ehe er mich greifen kann. Er hämmert mit beiden Fäusten dagegen und immer wieder höre ich den Klang der Schnalle gegen meine Tür. Ich öffne mein Fenster und lasse es geschehen. Mit dem Rücken stehe ich zu unserem Garten und lasse mich rückwärts mit befriedigendem Blick nach hinten fallen. In diesem Moment stößt mein Vater die Tür auf und sieht nur mehr meinen Körper, wie er aus dem Fenster gleitet. Mit aufgerissenen Augen steht er am Rahmen meines Fensters und blickt mir in meine toten Augen. Eine Blutlache macht sich um mich herum breit und der Gürtel rutscht aus seiner Hand. Heute erzählt man sich in der Schule, wie tapfer ich gewesen wäre, mich meinem Lehrer zu öffnen und wie schlimm es in meinem Elternhaus zuging. Viele hätten versucht mir zu helfen, aber ich hätte die Hilfe nicht angenommen. Am Ende habe ich alleine gelebt und bin alleine gestorben, wie es Versager tun.
© Lisa Fürmkranz 2024-08-06