Verwandte Seelen. Vielleicht.

Shelly Further

by Shelly Further

Story
Wien

Als sie ihn das erste Mal sah, hatte sie nicht erahnen können, wie viel er ihr einst bedeuten würde. Wie sehr sie sich den Kopf über ihn zerbrechen würde. Wie sehr er sie verletzen würde. Wie viel Macht er über ihre Gedanken bekommen würde.
Sie sah ihn vor diesem Vorhang stehen, der Publikum von Bühne trennte. Schwarze Lederjacke, dunkle Sonnenbrille.
Die Sonnenbrille war lächerlich, wenn man bedachte, dass sie sich in einem dunklen Club befanden. Und die Lederjacke musste viel zu warm sein. In diesem Wiener Kellerclub war es eigentlich immer viel zu heiß, weshalb sie, obwohl noch kalter Februar war, bauchfrei und trägerlos trug. Sie war nicht zum ersten Mal hier. Er, seiner Outfit-Wahl nach, vermutlich schon.
Eine schlichte Begegnung zweier Fremder. “Was für ein attraktiver Mann” hatte sie gedacht. Und dabei hätte es bleiben können. Tat es aber nicht. War das vielleicht dieses Schicksal? Hatte er in ihr Leben kommen müssen? Sie glaube nicht an Zufälle.
Sie beide waren nicht allein gekommen. Und so war es nicht er der sie ansprach, sondern sein Freund. Die drei verstanden sich auf Anhieb, denn sie teilten die Liebe zur gleichen Musik. Und so kam es, dass sie den gesamten Abend miteinander verbrachten. Alkohol, Wiener Nachtluft und Gespräche über die Musik, die sie zusammengeführt hatte. Eine nette Wochenend-Geschichte. Doch dabei blieb es nicht. Zufall? Daran glaubte sie nicht. Sie blieben in Kontakt. Er und sie. Und hoffnungsvoll wie sie war, erwartete sie ihn wiederzusehen. Sie vertrauten einander viel an. Viel zu viel, wenn man bedachte, dass sie einander kaum kannten. Sich nur einmal gesehen hatten und sich nun über Handys ihr Innerstes anvertrauten. All dies hatte zur Folge, dass sie rasch ein sehr großes Gefühl überkam. Das Gefühl in einen Spiegel zu sehen. Als glichen sich ihre Seelen. Sie hatte nie an so etwas wie Seelenverwandtschaft geglaubt. Doch die Begegnung mit ihm, änderte ihre Meinung zu diesem Thema. Manche Seelen ähneln sich so sehr und fühlen sich deshalb zueinander hingezogen. Weil sie das erste Mal das Gefühl haben verstanden zu werden. Aber aus heutiger Sicht betrachtet, glaubte sie nicht mehr, dass dies auch hieß, das diese Seelen zueinander gehörten. Sie hatte aufgehört zu glauben, dass diese füreinander bestimmt waren. Sie hatte gelernt, dass sie vor allem die Macht besaßen einander zu zerstören. Sie glaubte, gerade durch ihre Ähnlichkeit, wussten sie genau wie sie einander verletzen konnten. Glaubte sie an die Möglichkeit, dass verwandte Seelen sich heilen konnten? Sicherlich, wenn sie sich zum richtigen Zeitpunkt trafen. Als sie sich trafen, war sie gerade dabei zu heilen und er wusste noch nicht einmal, dass er Heilung benötigte, so kaputt war er. Sie unterstellte ihm nie eine Absicht. Dennoch hatte er sie zerstört. Wo sie doch gerade dabei gewesen war zu heilen. Er war schon lange nicht mehr der attraktive Mann vor dem Vorhang. Der Mann, wie sie ihn sich ausgemalt hatte. Ihn idealisiert hatte. Heute sah sie ihn. Sie sah ihn wahrhaftig.
In Emily Brontës Sturmhöhe heißt es “Woraus auch immer Seelen gemacht sind, seine und meine sind gleich”
Und so war es bei ihnen. Davon war sie überzeugt.
Vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt.
Vielleicht auch nicht.
Vielleicht.

© Shelly Further 2025-03-22

Genres
Novels & Stories
Moods
Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Mysteriös