Verwehter Glockenklang

Bernhard Fellner

by Bernhard Fellner

Story

Es wird Abend über der weiten, trockenen Steppe. Die erbarmungslose Hitze des Tages sinkt erschöpft in das ausgedörrte Grasland. Ein sanfter, warmer Wind streicht über die endlose Ebene. Die kleinen Zikaden geben ihr Bestes und veranstalten ein durchdringendes Konzert. Im fernen Westen geht die Sonne wie eine rote Feuerkugel unter. So wie jeden Tag fällt die Steppe in den Schlaf. Nichts Außergewöhnliches ereignet sich. Oder doch?

Was ist das für ein melodisches Geräusch? Der Wind trägt es von weit her. Es hört sich hell und dunkel gleichzeitig an – mal leiser und mal lauter. Es kommt nicht von der Natur – es ist von Menschen gemacht – das Geräusch einer Glocke: ein “verwehter Glockenklang”.

Die Abendstimmung ist wie gemacht, um diese vom Wind getragene, ferne Botschaft zu empfangen. Gerade weil die Glocke so weit entfernt ist, weckt sie Sehnsucht. Sehnsucht nach Frieden, Geborgenheit und Sicherheit. Dieser verwehte Glockenklang spricht die Gefühle der Menschen an, die von der harten Tagesarbeit ausruhen. Es ist kein Wunder, dass sie ein Lied daraus gemacht haben. “Verwehter Glockenklang” ist eines der bekanntesten russischen Volkslieder.

“Lara’s Theme” , das auf einem einsamen Steppenfriedhof in Russland die Geschichte von Dr. Schiwago einleitet, ist nicht als Volkslied entstanden, sondern von dem französischen Komponisten Maurice Jarre komponiert. Zweierlei verbindet dieses meisterhafte und bezaubernde Musikstück mit dem “Verwehten Glockenklang”: Einerseits die bewegende Melodiösität und andrerseits der Hintergrund der weiten, ja unendlichen russischen Steppe. Der Klang der Balalaikas tut ein übriges, um eine melancholische Stimmung zu erzeugen.

Aber der Klang einer hellen Glocke kann nicht nur Melancholie erzeugen. Er kann auch trösten, bestärken, Mut machen. Ohne den Wind würde er aber kaum in weiter entfernte Gebiete vordringen. So wird der beständige Lufthauch zum Boten und zum “Freund” der Menschen. Wie schön ist es, wenn sich die hohen Gräser sanft in der Brise neigen!

Viele Bilder gehen mir durch den Kopf, wenn ich dieses Lied höre. Der verwehte Glockenklang ist geduldig: Sein sanfter Ton regt zum Träumen an. Auf der anderen Seite dringt die Melodie – sofern man dafür empfänglich ist – direkt und tief ins Herz.

Wie ich dieses wunderbare Musikstück kennengelernt habe? Ja, das ist ein “Beweis” für die Tatsache, dass “alles was Gutes” hat – sogar corona.

Meine Frau spielt seit dem Beginn der Epidemie im Rahmen von sogenannten “Fensterkonzerten” verschiedene Stücke am Klavier. Dabei ist mir dieses russische Volkslied aufgefallen.

Ich habe die Melodie lieb gewonnen. Sie hat mich zum Träumen gebracht, mich in die weite russische Steppe entführt. Ich kann sie nicht oft genug hören. Und seither bildet der “Verwehte Glockenklang” meist den Abschluss, wenn Eva Klavier übt. Ich möchte nicht verhehlen, dass ich schon ein paar Mal dabei eingeschlafen bin. Aber ich hatte immer schöne Träume…

© Bernhard Fellner 2021-11-25

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