VII. Über Weisheit und Neid

Nick Nabakowski

by Nick Nabakowski

Story
Kultheym

Es sind die Weisen, die ihre Welt dann zu verstehen beginnen, wenn sie sich selbst verstehen. Die Perspektive jedes Einzelnen gibt ihre Wahrheiten vor. Nur wer von Hochmut befreit ist, sieht die eigenen Verfehlungen. Kein Ort auf Heym war wie der nächste und doch war Kultheym noch einzigartiger. Wo es gepflasterte Straßen gab, sangen Barden. Wo es Geld gab, waren Händler nicht fern. Und wo es Sterbliche gab, fand sich das luxuriöse Leben. Aber dort, wohin die Rauschmittel und die Schnapsleichen flossen, gab es Verstoßene; und eine Träumerin. Ilara saß unterhalb eines Abflussgitters in den Kanälen. Die Sonne musste gerade aufgehen, da das Licht einen weiten Kegel warf. Das kleine Mädchen wurde immer für ihre großen Agazeni-Augen gehänselt, aber sie allein waren der Grund, weshalb sie selbst bis tief in die Nacht und bereits früh am Morgen in ihrem Büchlein rumkritzeln konnte. Sobald mehr und mehr Wesen auf die Märkte strömten, würde sie aus ihrem Versteck kriechen und um die nächste Mahlzeit betteln. Einige hier mochten ihr Schicksal verdient haben, sie soffen zu viel, zockten, doch das magere Mädchen lebte bereits im Schmutz, bevor sie vollständige Sätze bilden konnte. Sie hörte langsam mehr und mehr Schritte über ihrem Kopf hallen, ein lebendiges Echo, die Dampfpfeife, die sie zur Arbeit rief. So klopfte sie sich den Staub ab, richtete ihr Bett aus alten Kartons her und kletterte ins Freie. Alle waren sie in heller Aufruhr. Ilara quetschte sich zwischen Besuchern und Verkäufern durch und hörte immer wieder Fetzen dessen, was sie alle aufbrachte. Ein Slon solle frei durch die Stadt laufen. Einige spekulierten der zwei-rüsselige, graublaue Vierbeiner hätte sich am Hafen losgerissen, andere sprachen von einer Inszenierung des Museo Artis. Ein Marktschreier warf Ilara einen frischen Schmelzkaktus zu, als er sich gerade der Wucherei bezichtigen ließ. Endlich hörte sie, wovon alle zu sprechen schienen. Das majestätische Tier schlenderte zum großen Kalkberg von Datos, blies erneut in die Trompeten und füllte seine Rüssel mit Wasser aus dem nahegelegenen Aquädukt. Sadar Diri, der Gott der Selbstbewussten gab sich in der Gestalt des Slons zu erkennen. Das Wasser schoss aus den Rüsseln und er vollbrachte ein Wunder. Da stand nun das Meisterwerk klassischer Architektur, geformt aus Kalk. Die Universität. Bereit zum Einzug aller würdigen Denker. Die Weisen jubelten und füllten bereits die Hallen, die Kinder spielten im Regen, den der Slon erzeugte, ein Regenbogen bildete sich über ihren Köpfen. Die kleine Ilara tapste zum gnädigen Biest, klopfte gegen eines der schuppigen Beine und wartete bis der Gott sie sah. Vor Aufregung zitternd, hob sie ihr Büchlein über den Kopf. Die Seiten waren verwaschen und das Leder gefleddert, doch jede gezeichnete Linie, jede staksige Aneinanderreihung von Buchstaben, die ihren Namen symbolisieren sollte, hatte sie sich selbst beigebracht. Es war ihr ganzer Stolz. Er nahm die Gabe an, studierte sie kurz und sprach. »Ein Garten kann nur erblühen, wenn die Erde fruchtbar ist. Auf unfruchtbaren Boden gedeihe allerdings kein Same.« Der Regen hielt an, und mit ihm war die Sonne längst verschwunden. Ilara lag mit ihrem Buch gehüllt in den nassen Kartons, die sie ihr Zuhause nannte und weinte bitterlich, als sie versuchte auch nur noch einen geraden Strich zu zeichnen. Der Moment, zu dem sie endlich schlafen würde, mochte ein neuer Anfang für sie sein, denn dieser Tag machte die unschuldige Ilara zum Sukkubus des Neids.


© Nick Nabakowski 2025-02-07

Genres
Science Fiction & Fantasy
Moods
Emotional, Hoffnungsvoll, Traurig
Hashtags