Vogel verlernt zu fliegen

Auch heute spürt Jan, wie die theoretische Macht über das Leben mit jedem Meter wächst, den er bergauf zurücklegt.
Überall in der Wand sind kleine Höhlen, aber relativ weit oben ist eine größere Höhle, in die man fast aufrecht hineingehen kann. Dort hat Jan eine Kiste mit Kerzen, Zündhölzern, einer Decke und einem Polster.

Immer wieder verbringt er hier gern einen Nachmittag und schaut der Welt zu: Auch jetzt zündet er sich ein Teelicht an und setzt sich mit Decke und Polster an den Abgrund. Zuerst ist es immer sehr still, und wenn man sich länger nicht bewegt, wird es lauter und die Kleintiere und Vögel beginnen sich zu bewegen und Geräusche zu machen.

Heute sieht Jan wegen dem Nebel nicht bis ganz hinunter zum Fuß der Felswand. Er sitzt ruhig bei seinem Teelicht und links von ihm landet ein Vogel.

Dieser ist eher klein und dunkel, schaut nicht sehr spektakulär aus. Er pickt und macht ein paar nicht zuordenbare Geräusche. Dann hebt er ab und es wird skurril.

Zuerst fliegt er ein paar Kreise, als nächstes flattert er wild und fliegt auf und ab, als würde er für Jan tanzen.

Jan schaut unverwandt zu und es kommt ihm alles komisch vor, sieht doch die Performance des Vogels nicht sehr kontrolliert aus. Auf eine seltsame Art fühlt er sich für den Vogel verantwortlich, als dieser aufhört, mit den Flügeln zu schlagen, ein paar Meter absinkt und dann wieder auffliegt.

Das wiederholt er einige Male, um dann plötzlich ganz stillzuhalten und ohne ein weiteres Geräusch oder Manöver in den Nebel hinabzufallen.

Jan stützt sich auf und beugt sich nach vor, um zu sehen, was passiert ist. Aber alles ist ruhig, nichts bewegt sich unten im Nebel. Einige andere Vögel fliegen friedlich umher, als hätten sie nichts bemerkt von dem Absturz. Es ist zu spät, der Vogel taucht nicht wieder auf, er ist verschwunden. Der Vogel hat die Macht der Höhe über das Leben verloren.

Jan blickt hinab und spürt die Macht, die er über den Abgrund hat.