vollkommen durchgeknallt

atomwirbel

by atomwirbel

Story
Psychiatrie


Tränen blicken mich an.
Zitternd versucht er sie wegzuwischen, doch seine Hand versagt. Geschüttelt von Weinkrämpfen kapituliert seine Seele.
“Sie wollen einfach nichts mehr mit mir zu tun haben.” Noch mitten im Satz bricht seine Stimme und er kann nur noch flüstern. Stumm schaue ich ihn an. Mit Worten ist nicht zu beschreiben, welchen Respekt ich für diesen alten Mann empfinde.
Abend für Abend sitzen wir zusammen auf dem Balkon, der von hohen Gitterstäben umrandet ist. Abend für Abend schauen wir uns den Sonnenuntergang an, der uns wenigstens ein bisschen mit der Welt da draußen verbindet. Abend für Abend erzählt er mir von früher, von einem langen, glücklichen Leben und davon, wie es sich nun jäh in der Psychiatrie gewandelt hat. Manchmal sitzen noch andere dabei, manchmal erzählen sie von ihrem Leben. Manchmal erzähle ich. So teilen wir alle hier ein wenig unser Leid, das so weit weg, so unverständlich für den Rest der Welt zu sein scheint.
“Sie haben mir heute geschrieben, dass sie nie wieder von mir hören wollen. Weil sie so einen vollkommen durchgeknallten, alten Opa und Vater nicht bräuchten.” Sein Kopf senkt sich und auch meine Augen füllen sich mit Tränen. Er ergreift meine Hand und ich halte ihn, versuche sein Zittern zu beruhigen.
Betroffen sehe ich, wie sein Herz bricht. All sein Glück, seine Familie, scheint er heute endgültig verloren zu haben. Die, für die er sein ganzes Leben gearbeitet hat. Dort, wo sein Herz ist, wurde ihm heute gezeigt, dass er nicht mehr erwünscht ist. Dort, wo seine Liebe hingeflossen ist, wird mit Ablehnung geantwortet. Nicht, weil er Böses getan hat, nicht, weil er nachlässig war. Sondern nur, weil er eine unsichtbare Krankheit bekommen hat. Weil er in ein Haus gekommen ist, das von negativen Vorurteilen befleckt ist. Niemand seiner Liebsten sieht seine Stärke, die er gebraucht hat, um sich Hilfe zu holen. Niemand von ihnen ist stolz auf ihn. Stattdessen wird er abgelehnt.
“Was kann ich denn dafür krank geworden zu sein? Ich bin doch immer noch derselbe Mensch…” Mit letzter Kraft schafft er es seinen Kopf zu heben und blickt zum Horizont. Das letzte Sonnenlicht des Tages überflutet sein Gesicht. Es scheint, als gebe die Natur alles, um sein kaputtes Herz zu wärmen.
Als die Sonne untergegangen ist, umarmt er mich und geht ins Haus. Es ist das letzte Mal, dass ich ihn sehen darf. Ihm scheint alles genommen worden zu sein. Nur durch das Wort “Psychiatrie” sind seine Liebsten und sein Glück gegangen. Seine ganze Welt hat er daran verloren. Und dadurch sein eigenes Leben.

© atomwirbel 2024-01-18

Genres
Novels & Stories
Moods
Herausfordernd, Dunkel, Emotional, Reflektierend, Traurig
Hashtags