Vom milden Herbstabend zur eisigen Winternacht

Lukas Nünnerich

by Lukas Nünnerich

Story

Das erste Mal als wirklich spürte, wie klein und machtlos ich bin, war an einem Abend im Herbst meiner Jugend. Es war weder warm noch kalt, eher angenehm mild, während die Sonne schon längst hinter dem Horizont verschwunden war. Einer der Tage, an dem die Welt träge ihre Runde dreht und müde wirkt. Müde vom Sein. Außer dem einsamen Krächzen einer Krähe war von draußen nichts mehr zu hören.

Ich saß gemütlich in einem Sessel und schaute ein mir nicht im Gedächtnis gebliebenes Fußballspiel. Die einzige Lichtquelle bildete der Fernseher und so konnte man weder das Wohnzimmer mit dem leicht abgenutzten Mobiliar noch die auf dem Tisch verteilten Chipsreste sehen. Im Augenwinkel nahm ich schemenhaft eine Gestalt auf der Couch wahr. Mein Bruder bewegte sich in regelmäßigen Abschnitten und zwischen dem Geschrei des Kommentators hörte man nur das leise Atmen unserer Lungen.

Zunächst bemerkte ich, dass sich mein Bruder nicht mehr wirklich bewegte. Als ich zu ihm herüberschaute, erkannte ich undeutlich, dass er nicht mehr dem Fußballspiel folgte. Sein Blick war starr auf das große Fenster in der Nordost-Mauer des Wohnzimmers gerichtet. Oder eher auf das, was dahinter geschah; was draußen geschah.

„Ist es so interessant?“, fragte ich, wobei man den leicht ironischen Unterton wohl kaum überhören konnte. Denn dort draußen war nichts außer des dunklen Herbstabends.

„Ja, tatsächlich“, antwortete mein Bruder irritiert, während er sich erhob und ans Fenster ging. „Schau mal!“

Ich blickte an meinem Bruder vorbei aus dem Fenster. Nebeneinander standen dort die Häuser und schwiegen sich an. Dabei bemerkte ich allerdings ein rötliches Licht in der Dunkelheit, wie das Leuchten eines Wärmestrahlers, an dem man sich in kalten Winternächten erfreut. Aber es war nicht kalt und auch kein Winter, und so freute sich niemand über das bedrohlich Licht, welches immer größer wurde.

„Verbrennen die da unten irgendwas?“ Die Stimme meines Bruders riss mich aus meiner Trance. Das Licht hypnotisierte mich, fesselte mich und ich konnte den Blick kaum davon lösen. Doch in dem Moment als ich meinen Bruder ansah, war uns beiden klar, dass unsere Nachbarn kein fröhliches Gartenfeuer machten. Unsere Nachbarn erfreuten sich nicht an den kleinen tanzenden Flammen brennender Holzstücke, und sinnierten nicht über sich und die Welt, nachdem sie zu viel Stockbrot gegessen hatten. Unsere Nachbarn schliefen tief und fest, während über ihnen die Flammen tobten.

Lodernd verschlagen das Feuer immer weitere Teile, beanspruchten sie für sich. Der Himmel brannte in Rot und Orange. Es wirkte wie die Hölle, welche auf Erden kam. Der Anruf meines Bruders bei der Feuerwehr, der innere Drang zur Hilfe zu eilen, obwohl das Haus viel zu weit weg war, die warnenden Schreie eines Mannes; all das versank im Hintergrund, während ich gebannt in das Flammenmeer starrte.

Als die Balken des Dachstuhls unter lautem Getose zusammenkrachten, war ich ein Nichts.

© Lukas Nünnerich 2021-06-14

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