by siouxsie
Am 18. November 1974 wurde Holger Meins, Mitglied der Rote-Armee-Fraktion, im Familiengrab in Hamburg-Stellingen beerdigt. Einer der bei der Beerdigung ĂŒber fĂŒnftausend anwesenden Personen war Rudi Dutschke, WortfĂŒhrer der 68-er Studentenbewegung. Am Grab des infolge eines Hungerstreiks verstorbenen Meins reckt Dutschke vor laufenden Kameras die Faust in die Luft und sagt: âHolger, der Kampf geht weiter!â. Diesen Satz habe ich oft im Kopf. WĂ€hrend die kalte Novemberluft drauĂen an der StraĂenbahn vorbeizieht, sitze ich auf den blauen Plastiksitzen im Inneren der Bahn und höre Musik. Es geht immer weiter. Alles ist in Bewegung. Unbarmherzig ziehen die Zeiger der Uhr ĂŒber das Ziffernblatt, die Sonne geht morgens auf und abends wieder unter, das ist der Kreislauf des Lebens, das war schon immer so. Ist das Leben ein Kampf? Muss ich deswegen so oft an diesen Satz denken? Die Frau im vierer gegenĂŒber von mir tippt mit schlecht lackierten FingernĂ€geln auf ihrem Handy. Sie ist ca. sechzig Jahre alt, eine tiefe Zornesfalte bahnt sich ihren Weg zwischen ihre Augen. Angestrengt starrt sie auf den Bildschirm und ich versuche in der Spiegelung ihrer Brille zu erkennen, was sie da so beschĂ€ftigt, aber bleibe dabei erfolglos. Neben ihr sitzt eine jĂŒngere Frau, circa Mitte dreiĂig. Sie hat zwei Stangen Lauch in einer PapiertĂŒte auf dem SchoĂ und ein freundliches Gesicht. Mein Blick wandert wieder nach drauĂen. Das Fenster ist dreckig, die Stadt auch. Ich fand Köln nie schön. In DĂŒsseldorf habe ich mich zuhause gefĂŒhlt, in Köln immer nur wie ein Gast. Jemand, der Leben spielt, der nur zuschaut. Es war nie Teil meiner IdentitĂ€t, den Menschen hier habe ich mich nie verbunden fĂŒhlen können. Es ist Adenauers Stadt. Das denke ich, wenn ich die tristen Nachkriegsbauten sehe. Formlos und praktisch. Ein Dach ĂŒber dem Kopf fĂŒr die, die es in Zeiten der Not brauchten. Jetzt zweckentfremdet, WGâs von Menschen, die sich vor dem Zusammenleben fremd waren. Zweckgemeinschaften, Geld sparen, oder nicht sparen können, weil auch die Miete fĂŒr ein 12 m2 Zimmer in guter Lage ĂŒber die HĂ€lfte des Nettoeinkommens von Studenten frisst. Weiter hinten in der Bahn hustet einer ununterbrochen. Corona ist jetzt zwei Jahre her, es geht immer weiter. Der Kampf geht weiter. Schon komisch, wie es jetzt wieder normal ist, wenn jemand sich die Seele aus dem Leib hustet, wĂ€hrend noch vor ein paar Monaten alle argwöhnisch ihre Masken enger ans Gesicht gedrĂŒckt hĂ€tten. Es ist sechzehn Uhr vierunddreiĂig und es dĂ€mmert bereits. Nick Drakeâs beruhigende Stimme findet ihren Weg in mein Ohr.
Wir erreichen die EifelstraĂe. Die Frau mit dem freundlichen Gesicht steht auf und verlĂ€sst die Bahn. Ich sehe, dass sie ein Tattoo im Nacken hat, es sieht aus wie eine Schlange. Diese Stadt ist so hĂ€sslich, ich ziehe ein StĂŒck Haut, das sich an meinem Zeigefinger, neben dem Nagel gelöst hat, ab. Und dann blutet es ein bisschen und ich muss mich zusammenreiĂen, das Blut nicht abzulecken. Am Friesenplatz muss ich umsteigen, jetzt wo der Regen eingesetzt hat, will ich den Rest nicht laufen. Im Sommer mache ich das manchmal. Den kompletten Weg von der Arbeit in der SĂŒdstadt zu laufen nach Ehrenfeld. Aber der Sommer ist vorbei. Die Liebe ist vorbei. Geblieben ist die Zeit, die uns allen durch die Finger rinnt.
© siouxsie 2024-03-04