Von der Jugend, der Ratte und dem Tod

Heinz Rappitsch

by Heinz Rappitsch

Story

Nach der Hauptschule lernte ich Maurer bei einer Firma in Judenburg. Wir bauten Wohnblöcke im Hoch- und Tiefbau. Ich wohnte weiter bei den Eltern. Der Job war rau. Wir arbeiteten bis Mitte November und begannen wieder im Februar.

Einmal brach ich auf einem Dach beim Setzen der Latten durch, weil ich ein Astloch übersah. Ich stürzte und fiel etwa vier Meter in die Tiefe, landete auf einem Sandhaufen. Ich arbeitete aber weiter. Erst am nächsten Tag spürte ich die Schmerzen im Brustkorb und blieb zu Hause. Ein anderes Mal fiel mir die seitliche Bordwand eines Lastwagens auf den Kopf, weil der Fahrer die Wand samt dem Sand öffnete, als ich noch unter dem Fahrzeug arbeitete. Ich bekam die Wand auf den Schädel, fiel unter den LKW und wurde bewusstlos. Im Krankenhaus wachte ich auf. Am Hinterkopf hatte ich eine zehn Zentimeter lange Wunde.

In der Tierhandlung in Judenburg sah ich einige Tage vor Weihnachten eine schwarze Ratte, die ich spontan kaufte. In der ersten Nacht rumorte sie dermaßen im Käfig, dass wir mehrmals aufwachten. Mein Vater nannte sie Poltergeist. Sie war ein Männchen, und so nannten wir sie dann in Ableitung Poldi. Er stahl alles, was er kriegen konnte und sammelte es hinter der Couch. Mein Vater lehrte ihn, die Dinge auf ein Zeitungsblatt zu legen, damit wir die Sache besser entfernen konnte. Zum Fressen gab es oft Kartoffeln für ihn, ansonsten Nudeln und was übrigblieb. Wenn wir aßen, kam er gelaufen, setzte sich auf meine Oberschenkel, legte die Vorderpfoten auf die Tischkante und schaute links und rechts, was es so gab auf dem Tisch. Er suchte sich ein Stück, schnappte es und war gleich wieder weg.

Als der Opa da war und seinen Autoschlüssel neben sich auf die Couch legte, kam Poldi und zog den Schlüssel im Rückwärtsgang zu seinem Lager. Alle außer dem Opa sahen das und ließen ihn eine Weile suchen, ehe wir es ihm sagten. Ab nun mochte der Opa den Poldi auch, obwohl er zuvor eine Abneigung gegen Ratten gehabt hatte.

Poldi lebte im Haus, meistens im Wohnzimmer. Nur wenn ich mit ihm spazieren ging, steckte er in der Innentasche meiner Jacke und guckte mit dem Kopf heraus. Mit fast vier Jahren begann er, seine Beine aufzubeißen, was ein Zeichen war, dass er merkte, dass es mit ihm zu Ende ging. Worauf wir ihn leider einschläfern lassen mussten.

Wenige Wochen vor meinem sechsundzwanzigsten Geburtstag fuhren die Eltern mit ihrem Auto nach Tirol, um Freunde zu besuchen. Zurück nach Weißkirchen ging es an einem frühen Sonntagmorgen. Um acht Uhr bekam ich einen Anruf aus dem Krankenhaus. Meine Eltern waren nach einem Verkehrsunfall verstorben. Ein alkoholisierter LKW-Lenker hatte sie auf der Landstraße abgeschossen.

Ich befand mich im Ausnahmezustand. Und marschierte zum Haus des Bruders, der vor kurzem mit seiner Freundin in eine Wohnung im Ort gezogen war, drei Minuten zu Fuß entfernt. Ich klopfte an die Tür. Er öffnete und sagte: “Es ist Sonntag, acht Uhr in der Früh. Bist du deppert?” – “Nein”, sagte ich. “Unsere Eltern sind gestorben.”

© Heinz Rappitsch 2021-09-22