Von lang ersehnten Treffern

Yasmin Jöhl

by Yasmin Jöhl

Story

Ich bekenne mich schuldig: An meinem Briefkasten klebt ein “Werbung OK”-Kleber. Dass mein Briefkasten dadurch an manchen Tagen mit Gratiswerbung und Katalogen verschiedenster Dienstleistungen beinahe ĂĽberquillt, stört mich im Gegensatz zu vielen meiner Mitmenschen ĂĽberhaupt nicht. Im Gegenteil, ich zähle das gemĂĽtliche Blättern und Stöbern zu meinem Hobby, welchem ich täglich nachgehe. Nicht nur bin ich so immer Ă  jour, was die neuesten Neuheiten betrifft, nein ich kann eine zweite Fliege mit derselben Klatsche schlagen. Die Fliege, die die Hoffnung nicht aufgibt, bei einem Wettbewerb den grossen Gewinn abzustauben.

Von gewöhnlichen Kreuzworträtseln bis hin zu Sudokus, Kakuros, Bimarus und wie sie alle heissen – kein Rätsel ist vor mir sicher. Vielfach dient das Lösen der Ablenkung. Oder dem Gehirnjogging (man wird schliesslich nicht jĂĽnger). Aber oftmals motiviert mich auch die Aussicht auf einen Gewinn. Obwohl der Gewinn selbst zweitrangig ist. Das, was mich reizt, ist allein die Vorstellung, endlich einmal zu gewinnen. Auch wenn ein Katzenbaum, ein 2in1-Präzisions-Akku-Bartrasierer oder ein Jahresabo fĂĽr Bier (ich habe keine Katze, Haare wachsen mir nur an jenen Stellen, an denen es fĂĽr Frau ĂĽblich ist und auf Bier kann ich getrost verzichten) am Ende winkt, ich mache mit. Verdammt, irgendwann muss es doch auch bei mir einmal einschlagen. Als hätte mich das Schicksal erhört, kommt dieses “irgendwann” schneller als gedacht.

Neulich spricht mich während dem Einkaufen eine Dame an: “Haben Sie Ihren Preis abgeholt?” Ich drehe mich verwirrt um. Die Dame wiederholt die Frage. Ja, sie meint tatsächlich mich. Ich hätte doch einen Gutschein gewonnen, das sei in diesem Gratisheftchen gestanden. Ich habe bei einem Wettbewerb mitgemacht? Bei welchem? Ach was, ist doch egal, bei welchem. Hauptsache ich habe gewonnen. Aber wieso weiss ich nichts davon? Das gibt es doch nicht. Ich könnte auf der Stelle LuftsprĂĽnge machen, so euphorisch bin ich. Und wĂĽtend. Da gewinne ich etwas, und ich verpasse es? Warum hat man mich nicht informiert?

Beinahe panisch renne ich nach Hause. Mist, ist dieses Heftchen nicht schon längst im Altpapier gelandet? Ein Stein fällt mir vom Herzen. Ich habe Glück. Ich finde es. Und da steht es tatsächlich. Auf Seite zwölf. Schwarz auf Weiss. Fünfter Preis: Yasmin Jöhl. Ein Gutschein über Hundert Franken von einem Restaurant. Wie komme ich denn nun in den Besitz dieses Gutscheines? Denn nach wie vor hat sich noch niemand bei mir gemeldet. Habe ich etwa einen Anruf verpasst? Ist der Preis womöglich bereits weitergegeben worden? Unverzüglich suche ich eine Kontaktnummer im Internet. Und genauso unverzüglich schreibe ich eine E-Mail an die Redaktion des Heftchens. Der Gutschein wird mir in den nächsten Tagen zugestellt, so die Antwort. Schwein gehabt.

Dem Himmel sei Dank, hat mich diese Frau angesprochen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich nur zwei Minuten später den Supermarkt betreten hätte. Ja, was wäre dann passiert? Ich hätte womöglich nie erfahren, dass ich gewonnen habe – und würde heute noch auf den lang ersehnten Gewinn hoffen.


© Yasmin Jöhl 2023-08-31

Genres
Novels & Stories, Humor & Satire