Von Poesie und Pralinen 4

Freya Greiss

by Freya Greiss

Story

Winter

Ich habe beunruhigende Gedanken. Sie fressen mich auf. Tags verfolgen sie mich wie gierige Schatten. In der Nacht stürzen sich dann die Dämonen hungrig auf mich. Ich schreie, aber niemand vermag mein Flehen und Bitten zu hören. Die Schreie zerbersten still wie rieselnde Schneeflocken an meiner inneren Schädeldecke. Kein Ton verlässt meinen Kopf, kein Laut entkommt meinem Sein. Ich habe beunruhigende Gedanken. Die Welt wird sich jeden Tag aufs Neue weiterdrehen, unbeeindruckt von meinen Ängsten und Sorgen, meinen persönlichen Dramen und Gefühlsleichen. Der Kalender zwingt mich unwiderruflich einzusehen, dass sich das Jahr dem Ende zuneigt. Und ich erkenne endlich, was meine Gedärme von innen packt, zuschnürt und lebendig verschlingt. Die Ungewissheit frisst mich auf. Ich möchte zurücklassen, neu anfangen, wagen und verlieren, wagen und gewinnen. Ich möchte neue Türen aufreißen und alte zunageln, mit den dicksten Brettern, sodass kein Dämon aus dem Gestern mehr zu mir ins Heute vordringen mag. Ich möchte alle Bücher in einem lodernden Ritual verbrennen und nur das unschuldigste und weißeste zurücklassen und ein neues Kapitel beginnen. Es soll Frühling sein. Mein Frühling, meine Wiedergeburt, mein Neuanfang. Denn ich habe beunruhigende Gedanken und ersticke förmlich an ihnen. Ich versuche sie heraus zu husten, zu würgen und zu erbrechen. Der Finger bohrt sich tief in mein Mandelfleisch, zwängt sich in meinen Rachen. Aber die Gedanken entkommen ihm geschwind und nisten sich in meiner Magengegend ein. Bis mein Fleisch von innen heraus entartet, wächst, kranke Spiele spielt und ich verfaule. Ist das mein Ende? Oder stehe ich erst an der Pforte des Anfangs. Ich blicke nach draußen und erkenne Schnee. Es herrscht mein Winter, in mir und um mich herum. Es ist das Ende vom Alten und ich fühle den Anfang von etwas Neuem tief in mir gedeihen. Ich fühle die zarten ersten grünen Triebe des Frühlings, die sich gegen meine Bauchdecke pressen und zwängen, bis ich unter gellenden Schmerzensschreien das erste neue Grün gebäre. Es ist meins, in mir entsprungen, aus mir gewachsen, es gehört zu mir. Doch die beunruhigenden Gedanken legen sich wie eine dichte Schneedecke über mein junges Grün. Sie sind keine feurigen Funken, die mein Grün mit ihren roten Zungen auffressen und quälend zerstören. Doch sie bedecken mein Grün, sie bedecken jede Hoffnung und nehmen mir meine Menschlichkeit. Was wollt ihr, ihr beunruhigenden Gedanken? Was ist euer Begehren? Ich habe beunruhigende Gedanken und ich bin mir sehr sicher, dass es euch genauso geht. Ich bin mir so sicher, weil gerade dies uns zu Menschen macht. Und weil Hoffnung nur dort aus der Schneedecke hervorsprießen kann, wo der Boden fruchtbar für etwas Neues ist. Wir sind Menschen, also hoffen wir. In der Zerrissenheit, Sorge und Beunruhigung liegen die Samen vergraben, aus denen wir die Zukunft wachsen lassen können.

Wenn man jung ist, erscheint die Welt so wahnsinnig aufregend, groß, abenteuerlich und unberechenbar. Alle Türen stehen weit offen, unverschlossen und warten darauf, ausgetestet zu werden. Doch wer um Gottes willen ist dieser Mensch, der mir nun aus dem Badezimmerspiegel so erschrocken entgegenstarrt?

© Freya Greiss 2024-02-09

Genres
Anthologies
Moods
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend
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