Wie jedes Jahr durften mein kleiner Bruder und ich auch diesmal den Tag mit Christbaum schmücken, Plätzchen essen und Weihnachtsfilme schauen verbringen. Unsere Mama stand mit Schürze bekleidet in der Küche und bereitete traditionell, wie in jedem Jahr, den Kartoffelsalat zu. Dazu gab es immer Wiener Würstchen. Am nächsten Tag sollte es, ebenfalls wie jedes Jahr am ersten Weihnachtsfeiertag, einen Kaninchenbraten geben und meine Mutter wartete auf unseren Vater. Mein Papa, der das Kaninchen jedes Jahr mitbrachte, hatte in diesem Jahr jedoch die Rechnung ohne das Kaninchen gemacht.
Bis zu meinem achten Lebensjahr wusste ich nicht woher er das “Weihnachtskaninchen” wirklich bezog. Für mich war klar, dass sämtliche Tiere aus dem Supermarkt kamen, sowie auch alles andere, was bei uns zu Hause auf den Tisch kam. Mit Ausnahme der Marmelade, die meine Oma selbst kochte und des Salates, der aus Tante Ernas Garten kam. Wo also blieb mein Papa mit dem Kaninchen? Die Geschäfte hatten längst geschlossen und meine Mama wurde allmählich ungehalten. Wenn wir pünktlich um 16 Uhr Bescherung machen wollten und das Kaninchen bis dahin vorbereitet sein sollte, wurde die Zeit nun knapp. Als ich ein kleines Mädchen war, gab es noch keine Handys, höchstens in amerikanischen Serien. Also nutzte uns auch unser giftgrünes Telefon mit Wählscheibe nichts, denn wohin hätten wir anrufen sollen. Der Tannenbaum war fertig geschmückt, die Weihnachtsschallplatte spielte “Oh Tannenbaum” und der Kartoffelsalat stand bereits auf dem gedeckten Tisch. Wir Kinder wurden allmählich ungeduldig, weil wir uns so sehr auf die Bescherung freuten. Da diese aber immer erst nach dem Essen und niemals ohne Papa stattfand, mussten wir weiterhin auf ihn warten. Als unser Vater um 16 Uhr immer noch nicht zu Hause war, hatte meine Mama eine Idee. Sie nahm uns Kinder an der Hand, zog uns die Wintermäntel und Stiefel an und sagte: “Ich weiß, wo Papa ist, wir gehen ihn holen.” Nur zwei Straßen weiter war unsere Reise schon zu Ende. “Aber da wohnen doch Tante Frieda und Onkel Sepp”, sagte ich erstaunt zu meiner Mama. “Warum suchen wir Papa denn hier?” Die Antwort wartete im Garten vor den Kaninchenställen. Dort saßen, schon sichtlich angetrunken, mein Papa und der Onkel Sepp. Betrübt und etwas beschämt schauten sie uns an. Mein Onkel sagte schließlich: “Der Manfred kann nichts dafür, es ist die Schuld von Fridolin.” Meine Mama zog die Augenbrauen hoch: “Wer ist bitte Fridolin?” “Ich sehe hier nur euch zwei.” Plötzlich brach Onkel Sepp in Gelächter aus: “Das ist ja genau der Grund, warum der Fridolin schuld ist.” Er wies auf die leeren Kaninchenställe hinter ihnen. “Fridolin ist euer Weihnachtsbraten. Doch da ich heute Morgen vergessen hatte die Ställe zu schließen, ist er mitsamt seinen Kaninchenfreunden ausgebüxt.” “Deshalb haben euer Papa und ich beschlossen hier mit einem Bier auf die Rückkehr der Ausreißer zu warten”, erklärte er mit einem Blick auf meinen Bruder und mich. “Dabei haben wir wohl die Zeit vergessen”. Am nächsten Tag gab es bei uns zu Hause, anstelle des Kaninchens, Tiefkühlpizza. Die Kaninchen wurden alle wieder eingefangen und auch Fridolin landete in irgendeinem Kochtopf. Seither habe ich nie wieder Kaninchen gegessen, in Gedenken an Fridolin.
© Daniela Courage 2023-12-24