Warum?

AnnaLena

by AnnaLena

Story

Da saß ich und weinte. Ich weinte, weil das Schicksal mir eine Aufgabe gegeben hatte, für die ich selbst in hundert Jahren nicht bereit gewesen wäre. In Büchern und Filmen hatte ich wahrgenommen, wie die Reaktionen ausfallen sollten. Schreie, Tränen, Wut und Angst lagen nie näher beieinander. Du denkst, es sei nur eine Diagnose, doch es ist weit entfernt von der harmlosen Bedeutung eines winzigen Wortes.

Auch wenn es unfassbar bescheuert klingt, hätte ich mir so sehr gewünscht, dass es mich getroffen hätte. Ich wäre damit klargekommen, wenn alle um mich geweint und Angst gehabt hätten. Aber ich selbst kam nicht mit dieser Angst klar. Warum ausgerechnet er? Es fühlte sich an wie ein tiefes, schwarzes Lochen dessen Ausgang ich bis zum Ende meines Lebens suchen würde. Natürlich hatte ich Hoffnung, dass er es schaffen könnte, doch ich wusste beim besten Willen nicht, was ich machen würde, wenn dieser Fall nicht eintrat.

Ich frage mich ständig wie etwas so schreckliches an einem ganz normalen Dienstagmorgen passieren konnte? Hätte es nicht zumindest ein unfassbar regnerischer, ja eigentlich schon stürmischer Tag sein müssen, um so einem Ausmaß gerecht zu werden? Die Fragen schwirrten wie ein überdimensionaler Schwarm hässlicher Fliegen in meinem Kopf umher und summten so unerträglich, dass ich in Tränen ausbrach. So vieles hätte ich jetzt gerne an den letzten Jahren geändert. So vieles wollte ich wieder gut machen, dass ich nicht wert geschätzt hatte. Nur einen einzigen Wunsch hatte ich für den Rest meines Lebens: mehr Zeit.

Wochen vergingen und die Chancen standen überraschend gut. Dennoch folgten so viele Momente, für die ich mindestens doppelt so viel Kraft gebraucht hätte, wie ich sie für mein ganzes Leben geschenkt bekommen hatte. Irgendwann stand ich hinter ihm, er saß auf dem alten Holzstuhl, weil er niedrig genug war und starrte genau wie ich einfach ins Leere. Der Rasierer in meiner Hand brummte vor sich hin, doch meine Hände zitterten noch viel zu stark, um ihn endlich anzusetzen. `Ein Kind sollte nicht die Haare seines Vaters abrasieren.´ wie von einer endlos ablaufenden Kassette lief der Satz immer und immer wieder durch meine Gedanken. Es fühlte sich falsch an, doch ich setzte, wie ferngesteuert, irgendwann einfach am tiefsten Punkt an und ließ die Maschine über den wunderschönen Kopf meines Vaters gleiten. Nur wenige Momente später blickte ich ihm in die Augen. Er war immernoch mein Papa, der gleiche Mann wie zuvor, und doch war alles so real geworden. Ich bemühte mich mit aller Kraft ein glaubwürdiges Lächeln auf meine Lippen zu zaubern, doch mein Schmerz lag wie ein Schleier über uns und ich konnte nichts anderes mehr tun, als wegzulaufen.

Schicksal ist schwer zu definieren. Für manche ist es, die große Liebe zu finden oder im Lotto zu gewinnen. Doch von diesem Tag an wusste ich, was dieses winzige Wort wirklich zu bedeuten hat.

© AnnaLena 2021-07-08

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