Weg von hier

Ich gehe den Flur entlang, biege rechts ab und gehe die Treppe hoch. An den oberen Stufen angelangt, schaue ich mich um. Mein Blick fällt auf Lotte. Sie lächelt mich einladend an, also mache ich mich auf den Weg zu ihr, als Omar von hinten an mir vorbeikommt. Dabei flüstert er mir wieder das gleiche Wort wie eben ins Ohr: „Schwuchtel“. Erst jetzt realisiere ich, dass ich gleich 45 Minuten lang neben Omar sitzen muss. Nein, das mache ich nicht! Das wird mir zu viel! Plötzlich hört sich schwänzen doch nicht mehr so schlecht an, also drehe ich um und mache mich auf den Weg zu den Fahrradständern. Im Flur kommt mir Frau Schuster entgegen, doch ich ignoriere sie und laufe weiter. Jetzt ist es raus. Frau Schuster weiß, dass ich schwänze und sie wird sicherlich meine Eltern kontaktieren. Gerade kann ich mich aber nicht damit beschäftigen. Mir ist es wichtiger von hier wegzukommen oder besser gesagt von Omar wegzukommen. An den Fahrradständern angekommen, breche ich zusammen. Was mache ich hier eigentlich? Es ist der zweite Schultag und ich will schon wieder schwänzen, aber Omar kann ich doch nicht ewig umgehen. Erneut brechen die Tränen aus mir heraus. „Sara“, ertönt eine wohlbekannte Stimme hinter mir. Es ist Lotte. Ich drehe mich um und schaue sie an. „Frau Schuster hat mir erlaubt, dir hinterherzurennen. Was ist denn passiert?“, fragt sie mich. Ich kann nicht reden, schüttle einfach meinen Kopf und schmeiße mich in ihren Arm. So verweilen wir eine ganze Weile: Ich weinend und sie mich am Rücken streichelnd. Irgendwann habe ich mich einigermaßen beruhigt und ziehe mich aus der Umarmung zurück. „Danke!“, flüstere ich Lotte zu. Sie lächelt mich ermunternd an und fragt: „Willst du darüber sprechen?“ Ich schüttle nur wieder mit dem Kopf und sage „später“. An sich will ich Lotte gerne alles erzählen. Ich will ihr erzählen was passiert ist und ich glaube, ich bin auch bereit, ihr zu sagen, dass ich lesbisch bin. Trotzdem will ich es ihr nicht hier, nicht so sagen, sondern will lieber einen schöneren Moment abpassen. „Wollen wir zurück zum Unterricht gehen?“, fragt Lotte nun. Als ich zögere, fügt sie noch hinzu: „Frau Schuster hat sicherlich nichts dagegen, wenn ich mit Omar Plätze tausche. Dann hat sie ihn vorne besser im Auge und wir sitzen hinten zwar nicht ganz perfekt, aber immerhin nebeneinander.“ „Das fände ich toll“, antworte ich. Wir machen uns also auf den Weg zurück zum Chemie-Raum 1. Dabei schnappt sich Lotte meine Hand und ein wohliges Gefühl breitet sich in mir aus. Ich kann nicht anders als sie anzulächeln. Lotte lächelt zurück und zieht mich freudig hinter ihr her. Sie ist echt meine allerbeste Freundin überhaupt!

Als wir nun vor dem Chemie-Raum stehen, dämpft sich meine gute Laune wieder etwas, doch Lotte lächelt mich aufmunternd an und drückt mir die Hand, also nehme ich meinen Mut zusammen und klopfe an der Tür. Schon nach wenigen Sekunden macht Frau Schuster uns die Tür auf. Sie lächelt kurz, sagt aber weiter nichts, sondern führt mit dem Unterricht fort, also gehen wir leise nach hinten zu meinem Platz. Omar hat sich wohl schon von selbst umgesetzt, jedenfalls sitzt er nicht auf seinem sonstigen Platz neben mir, sondern sitzt vorne neben Kai. „Na guck mal, da hat unser Plan funktioniert, ohne dass wir Omar überhaupt bitten mussten, sich nach vorne zu setzen!“, flüstert mir Lotte zu, bevor wir uns beide hinsetzen und aufpassen.