Schietwetter wie meistens in Hamburg, doch die Familie aus Dortmund kommt trotzdem zu Besuch. Sie bleiben vier lange Tage…Das Klo ist immer besetzt, das Badezimmer auch. Ich muss auf dem Fußboden schlafen. Die kleine Packung mit Schokolade-Praline, gefüllt mit Fondant (ich hasse Fondant) werfe ich weg. Ein Geschenk von Tante Else. Sie hat auch nur zwei DM dafür ausgegeben. Tante Leni aus Finkenwerder kommt auch. Aber nur kurz. Sie erzählt lustige Geschichten vom kleinen Affen, den sie zuhause hatte. Er hat sich meistens oben auf der Gardinenstange aufgehalten. In der Straßenbahn hat sie das liebe Tier im Mantel versteckt. Aber Tante Leni, die immer Schnurren und Schnaken erzählt hat, verdient eine eigene schöne Geschichte…
Am Heiligen Abend spricht Onkel Karl, wie immer bei Festlichkeiten, ein selbst verfasstes Gedicht:
„Zum heutigen Feste wünsche ich das Allerbeste!
Mögen Glück und Sonnenschein
Stets eure treuen Begleiter sein!“
Mutti ist nicht nur zur Weihnachtszeit hektisch, aber jetzt besonders. Immer wieder sagt sie „Oh, meine Divertikeln…“ Mein Bruder versteckt sich in seinem Zimmer und liest fortwährend. Er meint, Hausarbeit sei Frauensache. Es gibt „Karpfen blau“ und einen preiswerten Sekt. Vorher sage auch ich ein Gedicht auf. Niemand merkt, dass ich dieses Gedicht bereits an fünf früheren Heiligen Abenden aufgesagt habe. Es beginnt so:
„Die Kerzen brennen, es leuchtet die Nacht.
Himmlische Liebe schenkt uns die Pracht…“
Vati lebt nicht mehr. Er ist an den Folgen der Kriegsgefangenschaft gestorben. Er war fast sechs Jahre „Zivilgefangener“ in Beresowsk, Gebiet Swerdlosk, Lager 8001, Ural.
© KOSCHKA HETZER – MOLDEN 2022-01-12