Weisse LĂŒgen

Jeldrik Schottke

by Jeldrik Schottke

Story

Im vor ihr befindlichen Spiegelbild blickte ihr eine ganz und gar als solche zu bezeichnende HĂ€sslichkeit entgegen. Nicht etwa waren es die braun-quellenden Warzen, schwarz-welken Haare an ausgewĂ€hlter Stelle oder rot-eitrigen Beulchen, die ihr Gesicht genauso regelmĂ€ssig bevölkerten, wie die Felder eines Schachbrettes das Quadrat. Vielmehr waren es die ungleichen Proportionen, die schiefe Nase, die zu grossen Augenbrauen, die sich in der Mitte fanden und aussahen wie ein einziger Horizont. Das schiefe Gebiss, die hohlen Wangen, die zu eng beieinandersitzenden Augen. Die zu schmalen Lippen, die gewölbte Stirn, das flaue Haar. Die Hasenscharte und ihr kleines OberlippenbĂ€rtchen. Allesamt liessen sie dieses grausame Kunstwerk der Natur vervollkommnen. Brutal, gemein, verabscheuend, Hexen- und Teufelswerk in einem, angewidert und wieder hochgebrochen. Das beste an der ganzen Sache war jedoch: sie merkte es nicht. Und so vertuschte sie es nicht. Die ErklĂ€rung dafĂŒr ist ganz einfach. Es war die wohlgesinnte Fee der weissen LĂŒge, die hier ihr Werk walten liess, wie sie es so oft und gerne macht. Es ist fĂŒr manchen Erwachsenen schwer, an Feen zu glauben. Bitte, sie existieren. Nicht in dem klassischen Bild der flĂŒgeligen MĂ€rchengestalt, es sind reale Geister. Man sieht sie nicht, sind aber allgegenwertig. Und so föhnte sie ihr krankes Haar, trug sich dunkelroten Lippenstift auf das schmale Gewebe ihres Mundes und behĂ€ngte ihre zu grossen Ohren mit allerlei glĂ€nzendem Schmuck. Ein schauriger Anblick, garantiert, verliess ihren Spiegel in das rauschende Nachtleben. Allerlei Leute kamen ihr entgegen, blickten zurĂŒck. Staunend. ErschĂŒttert. Nichtsahnend. Sich an einen Tisch im teuersten Lokal der Stadt setzend, wurde sie mit Schaumwein bedient und liess es sich nicht nehmen, an die anderen Tische zu blicken. (Vornehmlich an jene mit Junggesellen, welche an ihrem deutlich zu glatt gekĂ€mmtem Haar sich erkenntlich erwiesen.) Gefiel ihr einer, so liess sie ihm noch einselbes GetrĂ€nk bringen, wie er es bereits trank. Sobald der oberste Ober, der sich galant um sie kĂŒmmerte, dem Junggesellen mitgeteilt hatte, wem die Geste zu vergönnen war, sponsierte ebenjener bereitwillig die Dame. Ein KĂŒsschen hier und ein KĂŒsschen da. Und nicht vergessen! Die weisse LĂŒge: ‘Sie haben wirklich betörende Lippen, Mademoiselle!’, ‘Ihr Haar, FrĂ€ulein, ich muss schon gestehen, wohlgewordene Engel!’, ‘Die Ohrringe runden ganz deutlich ihre Rosenhaftigkeit ab, Ma ChĂšre!’. So wurde aus der HĂ€sslichkeit die Schönheit. Die Hölle sind die anderen, der Himmel aber auch. Lasst uns an die Fee der weissen LĂŒge glauben. An die Wohltat, die LĂŒgen verursachen, wenn sie denn nur gut gemeint sind. Der Kranke wird gesund, der Arme reich, der Böse gut, der Dumme schlau und eben: der HĂ€ssliche schön. Jeder Mensch ist alles davon. Daher ist es lohnend, weiss zu lĂŒgen.

© Jeldrik Schottke 2021-04-28

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