Welt aus Glas

Alexander Heller

by Alexander Heller

Story
München 2025

Es war nur ein Glas. Ein schlichtes, altgedientes Ikea-Glas mit einem kaum sichtbaren Sprung an der Seite – also praktisch unzerstörbar. Dachte ich. Bis es mir heute Morgen, noch vor dem ersten Kaffee (was allein schon einem Hochrisikozustand gleicht), aus der Hand glitt, in Zeitlupe zu Boden segelte und mit einer Dramatik zerschellte, als hätte ich gerade die Bundeslade geöffnet. Jetzt stehe ich da. Barfuß. Im Schlafanzug. Mitten in einem Feld aus glitzernden Glasscherben, das aussieht, als hätte Elsa von Disney hier einen Nervenzusammenbruch gehabt. Und ich starre auf das zerborstene Ding, als könnte ich es mit der Kraft meines Blicks wieder zusammensetzen. (Spoiler: kann ich nicht. Aber hey, man darf ja mal hoffen.) Und während ich so dastehe, umkreisen mich Gedanken wie nervöse Tauben:
Wie konnte das passieren?
Warum ausgerechnet heute?

Mein Rücken macht klack, als ich mich in eine halbwegs lebensmüde Hocke begebe, um wenigstens die größten Splitter einzusammeln. Natürlich piekst mich dabei ein winziger, sadistischer Glassplitter in den Daumen – so einer, der sich danach in die Haut zurückzieht wie ein U-Boot in Tiefe-Tauchen-Stellung. Ich fluche. Der Hund erschrickt. Ich erschrecke den Hund. Ein Teufelskreis. Und dann denke ich plötzlich: Das ist es. Nicht nur das Glas liegt in Scherben. Nein. Die Welt liegt in Scherben. Oder zumindest meine Welt.

Mein linker Knöchel tut weh (warum? Niemand weiß es). Die Pflanzen auf dem Balkon sind entweder tot oder in einer sehr überzeugenden Simulation des Todeszustands. Und mein E-Mail-Postfach? Eine endlose Kakophonie aus unbeantworteten Nachrichten, Werbemüll und Terminerinnerungen, die mich passiv-aggressiv daran erinnern, dass ich mein Leben nicht im Griff habe. Aber klar – der Punkt, an dem alles zerbrach, war ein Ikea-Glas mit einem Sprung. Ich sitze jetzt auf dem Boden. Mein Tee, der noch auf dem Tisch steht, wirkt wie ein Relikt aus einem besseren Leben. Ich hebe ihn feierlich an – mit der letzten Tasse, die noch heil ist – und nippe. Lauwarm. Natürlich. Aber immerhin nicht auch noch kaputt.Ich atme durch. Versuche es zumindest. Irgendwas knackt in meiner Schulter. Vielleicht war’s der letzte Rest Hoffnung. Vielleicht auch nur eine Sehne. Und während ich langsam die Scherben zusammenfege, denke ich:Vielleicht ist das auch eine Chance. Klingt pathetisch, ich weiß. Aber man muss ja irgendwie das Beste draus machen, oder? Vielleicht ist das zerbrochene Glas ein Zeichen. Dafür, dass nicht alles heil bleiben muss. Dass es okay ist, wenn’s mal kracht. Und dass man auch mit zwei Tassen durch den Tag kommt – solange eine davon nicht mehr lauwarm ist. Am Ende landet das Glas in der Mülltonne, der Splitter im Pflaster und ich auf dem Sofa. Ich betrachte meine Welt. Noch etwas wackelig, leicht verbeult, hier und da eine Bruchstelle – aber sie hält.

Fazit des Tages?
Manchmal braucht es ein kaputtes Glas, um zu merken, dass der Rest auch schon Risse hat – aber erstaunlich gut hält, wenn man sich einfach mal hinsetzt, tief durchatmet und den Tee so trinkt, wie er ist: lau, leicht bitter, aber irgendwie tröstlich.


© Alexander Heller 2025-06-04

Genres
Novels & Stories
Moods
Komisch, Hoffnungsvoll, Inspirierend
Hashtags