Es war Sommer; Insekten und Schmetterlinge flogen durch die warme Luft. Ein besonders schöner Schmetterling fiel mir direkt ins Auge. Er hatte violette Flügel, die im Sonnenlicht bläulich schimmerten. Ich war vollkommen fasziniert von seiner Gestalt. Ich sah immer weiter zu, wie er auf der Wiese umherflog und sich auf den buntesten Blumen niederließ. Mein Vater saß neben mir auf einer Picknickdecke, die wir schon vor einigen Stunden hier im Park ausgebreitet hatten. Er war am Lesen, wie fast immer, wenn wir zusammen in den Park gingen. Entweder er las begeistert eines seiner Bücher oder wir beobachteten gemeinsam die Insekten auf der Blumenwiese. Der wunderschöne Schmetterling flog weiter umher, blieb jedoch immer bei uns im Umkreis. Als er sich neben mich auf die gelbe Picknickdecke setzte, fing ich ihn mit zwei Händen ein. Ich spürte, wie er meiner Hand entgleiten wollte und immer wieder flatterte er, als wollte er fliehen. Doch ich fand ihn so schön, dass ich ihn nicht mehr loslassen wollte. Am liebsten hätte ich ihn mit nach Hause genommen und dort in einem großen Glasgefäß mit den tollsten Blumen immer wieder beim Flattern beobachtet. Doch immer wieder flatterte er in meinen Händen hin und her, um zu fliehen. Mein Vater unterbrach meinen Gedankengang: “Liebes, lass den Schmetterling fliegen und frei sein.” “Aber Papa, er ist so wunderschön. Ich will ihn bei mir behalten. Ich werde mich auch immer gut um ihn kümmern. Er liegt mir sehr am Herzen”, sagte ich. Mein Vater starrte einen Moment lang nach oben in den Himmel und sagt dann: “Wenn du etwas liebst, lass es los. Kommt es zurück, dann gehört es für immer dir.” Gleich nachdem mein Vater seinen Satz beendet hatte, öffnete ich langsam meine kleinen Hände, um dem Schmetterling die Möglichkeit zu geben, zu fliegen. Sofort flatterte er los – weit weg und nicht mehr nur auf der Wiese, auf der wir die ganze Zeit saßen. “Und was ist, wenn er nicht zurückkommt?”, fragte ich. Mein Vater lächelte mich an und sagte: “Dann hast du ihm Liebe und Freiheit gegeben und gelernt, dass Liebe nicht immer auf Gegenseitigkeit beruht. Manchmal lieben wir jemanden, der uns nie lieben wird und manchmal braucht jemand Zeit, um uns lieben zu können. Wenn er nicht zurückkommt, nachdem du ihn gehen gelassen hast, dann hast du ihn nicht geliebt, weil er dich liebt, sondern weil du bedingungslose Liebe für ihn in deinem Herzen trägst.” “Aber ich möchte, dass er wiederkommt”, sagte ich. “Das kannst du nicht beeinflussen, mein Schatz. Aber wenn er wiederkommt, weißt du, er ist bei dir, weil er bei dir sein will und nicht, weil du ihn in deinen Händen gefangen hältst”, erklärte mein Vater. Ich blickte in den Himmel zu den anderen Schmetterlingen und dachte über seine Worte nach. In dem Moment wurde mir bewusst, dass ich will, dass er durch die schönsten Wiesen flattert und glücklich und frei ist. Doch als ich einen Blick nach rechts wagte, sah ich, er saß wieder auf der gelben Picknickdecke. Er kam zurück zu mir. Für immer.
© Julia Heckmann 2021-09-08