by VF
,,Wer Streit sät, kann die Ernte gleich mitnehmen.”, heißt es in einem guten alten Sprichwort.
Mich hat das immer irritiert und so ganz habe ich das nie verstanden – denn Ernte ist doch was Tolles oder? Da soll sich noch einer auskennen…
,,Sei brav! Nicht streiten!”, haben meine Kinderohren sehr oft hören müssen. Geändert hat sich seitdem nicht viel, immer noch wird meinen Erwachsenenohren von Zeit zu Zeit ein ,,Ich will jetzt nicht streiten, lass es doch!‘‘ entgegen geschleudert.
Aber warum denn nicht? Das frage ich mich so oft. Streiten kann doch so etwas Klärendes und Auflösendes haben.
Damit meine ich natürlich nicht die Sorte von Streit, bei der die Stimmen die Lautstärke eines Presslufthammers erreichen und Worte gefolgt von Schuhen und anderen Gegenständen dem Kontrahenten entgegen geschleudert werden, bis der Nachbar überlegt, ob er nicht doch die Polizei rufen soll.
Nein, ich meine eine andere, viel strukturiertere Art von Streit. Eine Diskussion oder ein Zusammenkommen verschiedener Parteien, die erkannt haben, dass sie an irgendeinem Punkt unterschiedliche Bedürfnisse haben, die so nicht zusammenpassen. Der Streit als Raum dafür, diese nicht erfüllten Bedürfnisse zu besprechen und zu überlegen, wie jeder zu dem kommt, was er braucht – ohne dass jemand gewinnen oder verlieren muss. Der Streit als Möglichkeit, in sich selbst hinein zu hören und neugierig zu sein, wie andere die Situation sehen. Der Streit als Chance auf einen Perspektivenwechsel, eine Umstrukturierung und einen Neuanfang.
Leider gibt es solche Streits sehr selten und das finde ich sehr schade. Ich habe mir die Frage gestellt, warum das so ist. Einerseits gehört dazu die Fähigkeit zu Reflexion von beiden Parteien – wenn mein Gegenüber sich nicht auf die Diskussion über Bedürfnisse einlassen will und mir stattdessen lieber leere Phrasen an den Kopf wirft, dann wird sich wohl eher die erste genannte Art von Streit entwickeln. Und je öfter das passiert, desto mehr verlieren beide Parteien den Glauben daran, dass es überhaupt noch eine andere Art von Streit gibt – solange bis man an den Punkt kommt, an dem es nur noch eine Möglichkeit gibt:
Jeglicher Meinungsverschiedenheit penibel aus dem Weg zu gehen und allen Unstimmigkeiten wie bei einem Eierlauf sorgfältig auszuweichen. Und dann, wenn man das lange genug gemacht hat, sich genug Energie angestaut hat und der letzte Funken das Pulverfass anzündet – dann kommt es zu so einem lauten, eskalierenden Streit und es gibt nur noch das Prinzip ,,Gemeinsam in den Abgrund.‘‘Ich wäre dafür, dass das Sprichwort heißt: ,,Wer Streit sät, kann sich über die Ernte freuen.‘‘
© VF 2022-07-27