by EllaMelody
Alle Augen liegen auf mir, als ich den Raum betrete. Ich sehe sie nicht, habe den Kopf gesenkt, den Blick auf dem blaugrauen PVC-Boden des Klassenzimmers. Aber ich spüre sie, wie tausend kleine Nadelstiche. Ein unangenehmes Prickeln, kaum zu spüren und doch da.
Die Bücher unter einen Arm geklemmt gehe ich ein paar Schritte in den Raum hinein, hebe leicht den Blick um mich umzusehen. Die Lehrerin ist noch nicht da, der Pult verwaist. Ich stelle mich daneben, unschlüssig, was ich sonst tun soll. Alle Tische sind komplett belegt mit Leuten in meinem Alter.
Ein Trio von Mädchen mit dickem Lidstrich und neonpinkem Nagellack. Gelangweilt Kaugummi kauend.
Zwei Jungs in schwarzen, weiten Hoodies, die sich gegenseitig mit Papierbällchen bewerfen.
Ungefähr 30 Gesichter, rund oder schmal, geschminkt und ungeschminkt, genervt, lachend, leise vor sich hin schniefend. Alle unbekannt.
Keiner von ihnen sagt etwa zu mir, wie ich da stehe, in diesem stickigen Klassenzimmer vor der Tafel, mit Schlieren von Kreide übersät. Aber sie alle beobachten mich, manche unverhohlen, die Augen weit, voller Neugier. Andere nur aus dem Augenwinkel, nebenbei, bemüht, uninteressiert zu wirken oder einfach wirklich uninteressiert. Wer weiß das schon?
Viel Interessantes gibt es an mir auch nicht. Jeans, T-Shirt, eine dünne Sweatjacke darüber, Bücher unter dem Arm. Das Interessanteste ist wohl die Tatsache, dass ich schon seit mehreren Minuten stocksteif in der Mitte des Klassenzimmers stehe, ohne etwas zu sagen. Vielleicht hätte ich doch irgendwo nach einem Platz suchen sollen, statt auf die Lehrerin zu warten. Oder einfach gleich draußen vor dem Klassenzimmer stehen bleiben sollen. Da wäre ich zumindest nicht so unangenehm aufgefallen.
Jetzt ist es zu spät. Jetzt stehe ich da, stumm, wie bestellt und nicht abgeholt. Andere würden sich aus der Situation retten, einen Witz darüber reißen. Ich nicht. Ich würde gerne den Mund aufmachen, aber ich traue mich nicht. Also heißt es abwarten.
© EllaMelody 2024-03-01