Der Bauer ist eigentlich gar kein Bauer, aber wir nennen ihn so. Ein bisschen so, wie die Kinder im fliegenden Klassenzimmer, die den Nichtraucher so nennen, obwohl er raucht. Nur weil es an dem Eisenbahnwaggon steht, in dem er lebt. Der Bauer hat einen Bauernhof, aber er lebt gar nicht da. Dort leben wir. Früher haben wir mal in der großen Stadt gewohnt, in der der Dom steht. Aber weil es uns da zu laut wurde, sind wir aufs Land gezogen. Und das kam so: Eines Tages hatte der Bauer, der zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht der Bauer hieß, uns erzählt, dass er einen leerstehenden Hof gefunden hätte. Den wollte er gerne kaufen. Der Bauer hat gerne mal verrückte Ideen, hochfliegende Pläne und entwirft ein Wolkenkuckucksheim nach dem anderen, also haben wir erst nur mit den Schultern gezuckt und ihn nicht ernst genommen. Damals wussten wir noch nicht, dass auch unserem Leben eine einschneidende Veränderung bevor stand. Wir sind wohl das, was man eine Patchworkfamilie nennt. Da ist die große Künstlerin, die darauf besteht, dass ich sie nicht meine Freundin, sondern meine Partnerin nenne. Also erfülle ich ihr den Wunsch, denn jedes Mal, wenn man Künstlern Wünsche erfüllt, entsteht irgendwo auf der Welt eine Sternschnuppe und jemand anders kann sich wiederum etwas wünschen. Dann gibt es da noch die kleine Künstlerin, die mittlerweile schon ganz schön groß, vorlaut und selbständig ist, der ich aber versprechen musste, ihren Namen aus dem Buch raus zu halten, denn das wäre voll peinlich. Und mich, den Wortkünstler. Ohne mich hättet ihr niemanden, der euch die Geschichten vom Leben auf dem Land erzählen könnte. Alle folgenden Kapitel haben sich ganz genauso zugetragen und es wurde nichts dazu erfunden, großes Hühnerehrenwort! Wir drei und der Bauer haben all das wirklich erlebt. Aber bevor es so weit kommen konnte, sind wir mal ins Bergische gefahren und haben uns angeschaut, ob der Traum vom Bauern überhaupt existiert. Und tatsächlich: hinter einer Baustelle und einer steilen Bergstraße ganz am Ende einer Sackgasse stand wirklich ein heruntergekommener Hof mit einer verwilderten Streuobstwiese und einem verlassenen Kuhstall, dessen grüne Schiebetüren ziemlich laut im Wind klapperten. Unser erster Eindruck war eher der einer Geisterstadt im Wilden Westen, deswegen saßen wir auch ziemlich schnell wieder im Auto und freuten uns, als die Spitzen des Doms am Horizont auftauchten. „Auf keinen Fall! Ein Fass ohne Boden! Finger weg.“
Zwei Wochen später machten wir dem Bauern den Vorschlag, wir könnten doch seine neuen Mieter am Hof sein. Der Bauer fand das eine tolle Idee. Er selbst wollte gar nicht auf dem Hof wohnen, er möchte dort nur aktiven Naturschutz betreiben. Wir glauben, dass der Bauer vor allem gerne Traktor fahren möchte, aber das bleibt bitte unser Geheimnis. Das Atelier brauchte auch noch einen Platz auf dem Hof, irgendwo müssen Künstler ja ihre Kunst auch machen. In der Scheune und im Kuhstall waren aber alle Plätze schon für landwirtschaftliche Geräte reserviert. Der Bauer hatte große Pläne. Da blieb für die Kunst nur der Heuboden. Da fühlten wir uns fürs Erste ganz wohl. Wir konnten Künstler bleiben und der Bauer wurde der Bauer. So ist das mit den Spitznamen, man kann sie sich nicht aussuchen, sie werden verliehen. Helga, die Frau vom Hühnerbaron, nennt den Bauern übrigens Professor. Aber das ist schon eine andere Geschichte.
© Finn Fersengeld 2024-03-14