Heute für viele kaum vorstellbar habe ich das Meer das erste Mal in meinem Leben mit 19 Jahren gesehen. Mein Bruder, sein Freund, dessen Freundin und ich, wir hatten die Idee die damals noch fünftägigen Herbstferien ein bisschen zu verlängern und für eine Woche auf die Insel Elba zu fahren. Schnell packten wir den VW Käfer mit Zelt und Gepäck und fuhren bei grauem Herbstwetter über den Brenner.
Bei unserer Ankunft in Livorno regnete es. Das hielt mich aber nicht davon ab, an den Hafen zu rennen. Endlich war auch ich am Meer angekommen. Vor Glück sprang ich am Ufer auf und ab. Dann fuhren wir auf die Fähre und unser Abenteuer begann. Ein Ziel hatten wir nicht. Wir wollten unsere Zelte dort aufschlagen, wo es uns gefiel und wir wurden schnell fündig. In der Nähe von Capoliveri, einem netten Ort in den Hügeln fanden wir eine schöne Wiese an den Klippen mit Blick aufs Meer. Ende Oktober, Anfang November war es auch hier nicht mehr allzu warm. Das hielt uns aber nicht von einem erfrischenden Bad in den Fluten ab.
Wir verlebten lustige Tage und niemand vertrieb uns aus unserem Paradies. Einmal hatten wir Besuch von der Dorfpolizei. Die sahen keinen Grund uns zu vertreiben. Damals Ende der siebziger Jahre und um diese Jahreszeit gab es kaum noch Touristen.
Eines Abends machten wir einen Bummel über die Piazza in Capoliveri. Und obwohl es Anfang November auch hier schon recht kühl war, schien der ganze Ort auf den Beinen zu sein. Ich war schon damals von der Lebensart der Italiener fasziniert. Dieses stundenlange Flanieren über die Piazza und die gestenreichen Gespräche zwischen Alt und Jung. Kinder werden nicht als lästig empfunden und noch vor der ‘Tagesschau’ ins Bett gebracht, sondern in den Tagesablauf, aber auch in das Abendgeschehen eingebunden. Ältere Leute werden sichtbar beachtet, ihre Lebenserfahrungen sind unbezahlbar. Jeder Italiener weiß, gerade bei Arbeitslosigkeit, finanziellen Engpässen oder gesundheitlichen Störungen geht nichts mehr ohne Hilfe der Familien und Freunde.
Auf der Piazza lernten wir ein paar junge Leute kennen. Trotz Sprachschwierigkeiten verstanden wir uns so gut, dass wir auf eine Party am nächsten Abend eingeladen wurden. Wir nahmen an. Was erwartete uns auf diesem Fest? Keiner von uns sprach Italienisch. Meine Vorbehalte waren unbegründet. Es wurde eine lustige Party und wir Ausländer waren im Mittelpunkt der Gesellschaft. Mit einigen Brocken Englisch, Händen und Füßen verständigten wir uns. Um Mitternacht gab es dann Spaghetti all´aglio e olio für alle.
Plötzlich zupfte ein junger Kerl an mir herum. Ich verstand nicht, was er von mir wollte. Irgendwann war ich genervt und suchte das Weite. Ich traf auf meinen Bruder und erzählte ihm von dieser komischen Situation. Da grinste er übers ganze Gesicht und meinte trocken: „Ach der! Ich habe dich gerade für 10.000 Lire an ihn verkauft.“
© Irene Hülsermann 2021-02-01