Wir rennen einem Zug hinterher

Luca Körnich

by Luca Körnich

Story

Müde sitze ich in unserer WG-Küche. In meinen Händen eine dampfende Tasse Kaffee. Vor mir mein Laptop. „Wir telefonieren dann einfach morgen nochmal. Meld dich aber, wenn dir schon früher nach Reden ist“, höre ich meine Mitbewohnerin Liv auf dem Flur. Dann kommt sie in die Küche. Ihr Handy in der Hand und ihre Kopfhörer im Ohr. „Okay. Bis dann.“ „Wer war das?“, frage ich, während sich Liv neben mich aufs Sofa fallen lässt. „Hannah“, sagt sie mit einem etwas abwesenden Blick. „Hat sie dir fürs Wochenende abgesagt?“ Liv schüttelt den Kopf. „Sie hatte einen Zusammenbruch.“ Müde streicht sie sich ihr Haar aus dem Gesicht. „Eine Art Burn-out. Sie fährt jetzt zu ihren Eltern und wartet dort auf einen Platz in einer Klinik. Eine Psychosomatische glaube ich.“ Kurz schüttelt sie etwas ungläubig den Kopf. „All meinen Freunden geht es zurzeit schlecht. Ich kenne niemanden mehr, dem es einfach nur gut geht!“ Nachdenklich beobachte ich Liv. Dabei fällt mir auf, dass ich die Nachricht über Hannah deutlich sachlicher aufnehme, als sie. Meine Abgeklärtheit in diesem Moment gefällt mir gar nicht. Vielleicht liegt es daran, dass aus meinem Freundeskreis die meisten schon seit ein paar Jahren einen festen Therapieplatz haben. Und wenn nicht den, dann waren sie mindestens schon einmal in einer Klinik. Essstörungen, Burn-out, Erschöpfung, Angst und Panikattacken. Schon seit einer sehr langen Zeit nehmen diese Themen um mich herum immer mehr Raum ein. Manchmal kommt mir das Ganze wie ein Traum vor. Wie gestern auf der WG-Party einer Freundin, wo plötzliche alle über ihre Probleme geredet haben. Zu Schulzeiten noch hätte sich niemand getraut, mit diesen Ängsten so offen an andere Menschen heranzutreten. Aber inzwischen ist es fast wie ein normaler Teil unseres Alltages geworden. Wir reden darüber wie über das Wetter. „Da ist so ein nicht greifbares Gefühl, dass uns alle verbindet“, sagt Liv nach einer Weile leise. „Ich finde, es fühlt sich an, als würden wir einem Zug hinterherrennen, weil wir das Gefühl haben, mit ihm mithalten zu müssen.“ „Man hat immer das Gefühl, nicht genug zu tun“, stimme ich ihr zu. Liv nickt. „Ich habe schon so lange kein Buch mehr zu Ende gelesen oder einfach nur gezeichnet. Früher ging das, aber heute habe ich bei den Dingen ein schlechtes Gewissen und den Anspruch, dass das, was ich male, auch einen Wert für andere haben muss. Irgendwie den Zeitgeist widerspiegelt oder so was.“ Ein paar Sekunden sehe ich auf die immer noch leicht dampfende Tasse Kaffe vor mir, dann schiebe ich sie zu Liv. „Trink du den. Ich mach mir einen neuen.“ „Danke.“ Sie umschließt die Tasse mit ihren Händen und pustet vorsichtig. „Der ist gut“, sagt sie, nachdem sie einen Schluck getrunken hat. „Nicht wahr?“, sage ich mit einem Grinsen über die Schulter und drücke den blinkenden Knopf, der unsere geliebte Siebträgermaschine in Gang bringt.

© Luca Körnich 2022-07-30

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