by Art Morrow
Mein Kopf arbeitete auf Hochtouren und ich wusste nicht, wie ich diese Gedankenspirale handhaben sollte. Was tat man mit Gedanken und Gefühlen, die man über Jahre hinweg in die hinterste Ecke gestopft und ignoriert hatte? Manchmal hatten sie eine gewisse Ordnung, manchmal schwirrten sie völlig sinnlos durcheinander und füllten meinen Kopf, bis ich vor lauter Gedanken nichts mehr sehen konnte. Jahrelanges ignorieren meiner eigenen Bedürfnisse hatten mich gegenüber meinen eigenen Wünschen taub werden lassen und im Moment merkte ich es stärker denn je. ,,Kyllian? Ist alles in Ordnung?” Eine Hand berührte meinen Arm und mein Blick glitt von der Wand zu meinem Besucher. ,,Harriet?” ,,Heute Henry.”, korrigierte er mich, ,,Aber mach dir darum mal keinen Kopf. Was ist los?” ,,Ich weiß es nicht.”, gab ich offen zu, ,,Meine Dysphorie ist es nicht.” Henry war eigentlich immer gut gelaunt und energetisch, doch in diesem Moment wirkte er anders. Eher seiner Lebenserfahrung entsprechend. ,,Ich verstehe. Gar nicht so einfach. Was brauchst du im Moment?” ,,Ich weiß es nicht.”, wiederholte ich, ,,Ich weiß gar nichts. Ich weiß nicht einmal, was ich selbst will.” ,,Das klingt nicht gesund. Ich nehme mal an, es ist die Schuld deiner Eltern? Du hattest wohl nie ein Umfeld, was dir beigebracht und erlaubt hat, deine eigenen Bedürfnisse zu äußern.” Ich nickte stumm. Damit hatte er nicht Unrecht. ,,Na gut. Im Zimmer zu sitzen wird das nicht besser machen. Ich bin die beste Hilfe, die du momentan haben kannst und das sage ich nicht, um anzugeben. Wenn es um das Erfüllen der eigenen Bedürfnisse geht, bin ich Platz 1.” Ich ließ mich wortlos von meinem Bett und in Henrys Zimmer schleifen. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber nicht einen bequemen Rückzugsort mit Kissen, Decken und allem möglichen anderen Zeug, was dazu einlud, sich auf das Bett zu schmeißen und Alfred zu kopieren. ,,Wir zwei beide setzen uns jetzt mal zusammen und überlegen, was du dir wünschst, was du begehrst.” ,,Ich hatte ne andere Form von Hilfe erwartet.”, gab ich kleinlaut zu. ,,Oh, wenn du diese Art von Hilfe brauchst, bin ich für jeden Spaß zu haben~!”, gluckste er und hob spielerisch eine Augenbraue. Sein Blick alleine war genug, um mir die Hitze ins Gesicht zu treiben. Er war gutaussehend, keine Frage. Es wäre enttäuschend gewesen, wenn er das als Sünde der Wollust nicht gewesen wäre, aber- ,,S-Sorry, Typen sind nicht wirklich mein Ding…” ,,Das ließe sich ändern aber ich weiß schon, was du meinst. War nur ein Spaß.” ,,Warum bin ich hier?” ,,Weil du Begierde scheinbar mit etwas Negativem konnotierst, wenn auch nur unterbewusst. Aber genau diese brauchen wir um zu Leben. Ich rede nicht vom Überleben, sondern von der Existenz im Hier und Jetzt. Also: Was ist eine Sache, die du dir von Herzen wünschst?” Was ich mir von Herzen wünschte? Der Druck des Binders erinnerte mich nur allzu sehr daran. ,,Das… müsste eigentlich klar sein…”, murmelte ich und sah an meinem verfluchten Körper hinab. ,,Das ist es. Doch ich würde es gerne von dir selbst hören. Deine Wünsche sind genau so legitim wie die unseren.” Ich schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, hinunter. ,,Ich will ich selbst sein. Ich will einen Körper, in dem ich mich wohlfühle.” Henrys Lächeln wurde breiter. ,,Okay, das kriegen wir hin. Dann lass uns mal schauen, was sich da machen lässt. Das Internet hat auf alles eine Antwort. Was auch immer nötig ist, du hast uns auf deiner Seite.”
© Art Morrow 2024-08-31